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Rezension zu
Sei Shonagon, Das Kopfkissenbuch

Kurzweilige Version der berühmten japanischen Weltliteratur

Von: Koreander
28.09.2023

Es gibt Bücher, die kann man auf sehr unterschiedliche Arten lesen. Und so sind es dann auch tatsächlich ganz unterschiedliche Bücher und Leseerlebnisse. Auch Das Kopfkissenbuch von Sei Shonagon kann man einfach nur als eintausend Jahre alte Unterhaltungsliteratur lesen, was durchaus kurzweilig sein dürfte. Vor allem, wenn man dann auch noch etwas Japan-affin ist. So richtig interessant wird es aber, wenn man ein historisches Interesse hat, ob nun literarisch oder sogar sozialwissenschaftlich bzw. gesellschaftlich, dann entfaltet Das Kopfkissenbuch erst so richtig seine Wirkung. Sei Shōnagon (ca. 966 – ca. 1025) ist die Tochter eines bekannten Dichters und wird an den kaiserlichen Hof berufen. Dort wird sie nach kürzester Zeit zur Lieblingsdame der sehr jungen Kaiserin. Ihre Aufzeichnungen aus dieser Zeit bewahrt sie in einem „Kopfkissen“ aus Porzellan auf. Diese Art zu nächtigen, war eine japanische Besonderheit, die erhöhte Lage ermöglicht es, die kunstreiche Frisur über Nacht zu schützen. Es ist eine absolute Ausnahme, dass eine Hofdame während der Heian-Periode, hier im Besonderen um das Jahr 1000 herum, über Papierbögen verfügen konnte. Dass der Kaiser ihr diese schenkte und ihr erlaubte persönliche Notizen anzufertigen, zeigt die außergewöhnliche Wertschätzung, die Kaiser und Kaiserin Sei Shōnagon gegenüber empfanden. Shōnagon galt als besonders klug und gebildet, scharfsinnig und sehr wortgewandt. Ihre Gedichte, eine besonders anerkannte Kommunikationsform der Heian-Zeit, entzückten die Kaiserin. Ihre Alltagsbeobachtungen, privaten Gedanken und Empfindungen, ihre Erzählungen aus dem täglichen Leben am Hofe des Kaisers in Kyōto begründeten schließlich die japanische Weltliteratur. Dabei sind die Beschreibungen natürlich durchweg aus der Perspektive einer gebildeten Elite verfasst. Das Leben am Hof, war das Leben einiger weniger. Und so kann sich Sei Shōnagon nicht nur den wesentlichen Dingen des Lebens hingeben, sondern auch den Anekdoten und Banalitäten des Hofes: Klatsch und Tratsch, Ränkespielchen, Mode, Müßiggang und Nichtigkeiten. Gleichzeitig finden sich aber auch immer wieder tiefgreifende Gedanken über das Leben selbst, kleine Weisheiten und große scheinbar universelle Gültigkeiten. „Man hat die Dummheit begangen und einen Mann heimlich bei sich nächtigen lassen, und da fängt er an zu schnarchen. Wie unangenehm ist das!“ Für mich als Sozialwissenschaftler ist es immer wieder frappant zu lesen, wie wenig sich die psychische Struktur der Menschen vor eintausend Jahren von der unseren unterscheidet. Es sind die immer sehr ähnlichen Probleme des Lebens, die die Menschen bewegen. Liebe, Leid, Scham, Prestige, Macht und Status. Natürlich in unzähligen Nuancen und mit anderen Rahmenbedingungen. Aber die Persönlichkeitsstruktur ist der unseren weitaus näher, als wir es uns eingestehen wollen. Man könnte auch sagen, dass der gesellschaftliche Fortschritt der letzten tausend Jahre eher im technischen Bereich lag als im gesellschaftlichen und psychischen. Wir sind immer noch die gleichen Menschen mit den gleichen Unzulänglichkeiten und Banalitäten (allerdings mit immer zerstörerischen Maschinen). „Die Eltern zwingen ihre Tochter, einen Mann zu heiraten, den sie gar nicht mag, und beschweren sich nachher, dass die Ehe nicht so gut sei, wie sie erwarteten. So etwas ist höchst unlogisch.“ Die Sichtweisen zum Verhältnis von Männern und Frauen kann man als der Zeit weit voraus wahrnehmen. Ich frage mich allerdings, ob es nicht eher daran liegt, dass wir lediglich vornehmlich die männliche Perspektive seit Jahrhunderten rezipieren. Vielleicht sind diese emanzipativen Gedanken gar keine Ausnahme, sondern nur ausnahmsweise gehört, gelesen und beachtet. Und so würden wir auch weiterhin das falsche Bewusstsein perpetuieren, dass Frauen erst mit Beginn der französischen Revolution erste Emanzipationsbestrebungen hegten (wenn man von den Beginen als etwas anders motivierter Fall absieht). Aus soziologischer Perspektive ist es jedenfalls höchst unwahrscheinlich, dass Sei Shōnagon hier eine individuelle Ausnahme darstellen soll. Realistischer ist die Annahme, dass die weibliche Perspektive durch die männliche Hegemonie in den entsprechenden Gesellschaften verdeckt wurde. Allein wegen dieser Abschnitte ist das Kopfkissenbuch äußerst lesenswert. „Ich freue mich besonders, wenn ich einen hochmütigen Menschen kurz abfertigen kann. Meine Freude ist riesengroß, wenn es sich dabei um einen Mann handelt.“ Bei dieser Ausgabe handelt es sich allerdings um eine erheblich gekürzte. Gut ein Drittel wurde weggelassen. Das mag zwar die Lesbarkeit für deutsche Leser*innen erhöhen, hinterlässt bei mir aber immer einen schalen Eindruck. Ich möchte selbst entscheiden, was ich verstehen kann und was nicht. Zumal es eine kommentierte Gesamtausgabe gibt. Und bei chinesischer wie japanischer Literatur ist es häufig so, dass sehr viele Anspielungen und Doppeldeutigkeiten nur für Kenner*innen der alten klassischen Literatur verständlich sind. Insofern sind Kommentierungen durchaus hilfreich, wenn nicht sogar notwendig. Wer aber einen einfachen und kurzweiligen Einstig in das Japan um das Jahr 1000 haben möchte und wer eines der berühmtesten Bücher der Weltgeschichte in einer kurzweiligen Fassung lesen möchte, ist hier goldrichtig. Für alle weitergehend Interessierten empfehle ich die vollständig kommentierte und mit einem Nachwort versehene Ausgabe von Menasse.

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