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5 Fragen an Simon Hahnzog

1. Herr Professor Hahnzog, Ihr neues Buch trägt den schönen Titel „Die Chance der Unvollkommenheit“, es ist Ihr erstes populärwissenschaftliches Sachbuch und es geht darin um die Schattenseiten unserer Persönlichkeit. Was sind das für dunkle Seiten unseres Selbst – und was finden Sie an ihnen so interessant?
Im Keller unserer Persönlichkeit finden sich zahlreiche oder vermutlich unzählig viele Anteile, die wir dorthin verbannen oder verdrängen. Da sind zum einen unsere Macken, also die liebenswerten kleinen Makel, die unserer Persönlichkeit erst Ecken und Kanten, ein Profil, verleihen: das kann der Hang zum Chaos oder zur Unpünktlichkeit sein, zur Rechthaberei oder Dickköpfigkeit. Andererseits finden sich dort auch schwergewichtigere „Kellerkinder“, die Eitelkeit beispielsweise oder die Faulheit und natürlich unsere Ängste. Mich begeistert an unseren - vermeintlichen - Schwächen, dass wir auch diese nicht ohne Grund in unserer Persönlichkeit vereinen – gemeinsam mit all den Tugenden, Stärken und Schokoladenseiten. Jede Schattenseite der Persönlichkeit stellt uns ein bedeutsames Potenzial zur Verfügung, das wir, um handlungsfähig zu sein, genauso brauchen, wie die positiv anerkannten Persönlichkeitsanteile.

2. Sie erklären die Persönlichkeit eines Menschen anhand eines Modells: eines Hauses, das die unterschiedlichsten Bewohner beherbergt; die Schattenseiten wohnen natürlich im Keller bzw. werden von uns dort eingesperrt. Warum sollen wir Ihrem Aufruf folgen und diese, wie Sie sagen, „Kellerkinder“ ans Licht holen?
Die Frage nach dem „Warum?“ kann letztendlich nur jeder einzelne für sich selbst beantworten. Ich bin allerdings felsenfest davon überzeugt, dass sich ungeahnte Möglichkeiten ergeben, wenn wir unsere Kellerkinder in die oberen Etagen des Persönlichkeitshauses einladen. Es ist doch so: Das Potenzial unserer Stärken ist uns ohnehin schon bewusst und jeder nutzt auf seine Art und Weise seine Stärken. Im ersten Moment macht es nicht viel Spaß, sich auch mit seinen Schwächen, seinen Schattenseiten auseinanderzusetzen, aber diese stellen genauso wie die Lichtgestalten der Persönlichkeit eine Funktionalität zur Verfügung. Nur weil wir den faulen, den aggressiven oder den beleidigten Anteil mit einem negativen Urteil versehen, fällt es uns schwer zu erkennen, was diese Schattenseiten alles für uns tun. Diese letzten drei ermöglichen es uns beispielsweise zur Ruhe zu kommen, uns gegenüber anderen durchzusetzen oder uns abzugrenzen, wenn es jemand nicht gut mit uns meint.

3. Haben Sie unter den genannten Beispielen ein persönliches Lieblings-„Kellerkind“, mit dem Sie sich besonders gern beschäftigen – oder sind alle unsere Schattenseiten in gleicher Weise wichtig für unsere Entwicklung?
Mein Lieblingsbeispiel ist der genannte faule Anteil, gerne auch als „innerer Schweinehund“ bezeichnet. Das liegt vor allem daran, dass ich bisher noch niemanden getroffen habe, der diesen Anteil nicht in seiner Persönlichkeit ausmacht – mich eingeschlossen. Andererseits ist er eines der Kellerkinder, das sich am häufigsten, oft täglich bemerkbar macht. Dadurch wird er zugleich zu einem der am häufigsten unterschätzten, verkannten Persönlichkeitsteile. Meist fürchten wir nur das Szenario, das sich ergeben würde, wenn er sich zu stark in den Vordergrund der Persönlichkeit drängen würde. Aber stellen Sie sich einmal vor, Ihr eigener Faulpelz würde sich verabschieden – nicht nur für ein paar Stunden oder Tage, sondern für lange Zeit. Natürlich würden Sie dann erstmal all das erledigen können, was schon lange auf Ihrer To-Do-Liste steht. Die Wohnung würde blitzen und blinken, unzählige Fotos wären endlich in ordentlichen Alben sortiert und die tägliche Joggingrunde bald Routine. Doch auch wenn Sie Ihr Schlafbedürfnis auf maximal zwei Stunden reduziert hätten, gäbe es immer noch etwas zu tun – immer weiter, immer weiter, immer weiter! Irgendwann dürften Sie sich dann wahrscheinlich in großen Lettern: BURNOUT auf die Stirn schreiben.
Es ist also unser Faulpelz, der dafür sorgt, dass wir immer mal wieder zur Ruhe kommen und uns entspannen, damit wir uns dann wieder mit voller Energie unseren Aufgaben zuwenden können. Und so ist es mit allen unseren Persönlichkeitsanteilen, den anerkannten und den ungeliebten: Jeder einzelne stellt uns eine bedeutsame Ressource zur Verfügung. Wir müssen nur dafür sorgen, dass sich jeder Anteil in der richtigen Balance zwischen zuviel und zuwenig befindet und nach der ihm entsprechenden Situation eingesetzt wird.

4. Welche Rolle spielt die Sozialisation für die Ausbildung unserer Persönlichkeitsanteile?
Die Sozialisation, also die wechselseitige Beeinflussung zwischen dem Einzelnen und seinem sozialen Umfeld, spielt die bedeutsamste Rolle bei der Entstehung und Entwicklung unserer Persönlichkeit. Den größten Einfluss hat dabei unsere Familie, aber auch Freunde und Lehrer, Schule und Unternehmen, Kollegen und Vorgesetzte gestalten unsere Persönlichkeit, ein Leben lang. Alle Werte, Ideale, Erwartungen und Wünsche anderer Menschen mit denen wir im Leben in Kontakt kommen, beeinflussen immer auch unsere Persönlichkeit.
Warum soll man seine Persönlichkeit überhaupt entwickeln – tut sie das nicht von ganz allein bzw. ist sie nicht irgendwann ausgebildet/ausgereift und quasi fertig?
Warum jemand sich und seine Persönlichkeit entwickeln möchte oder sollte weiß letztendlich immer nur der- bzw. diejenige selbst. Ich würde auch nie behaupten, dass es immer und zu jeder Zeit notwendig ist, diese zu entwickeln. Im Gegenteil, oft ist es einfach gut so zu sein wie man gerade ist. Aber die eigenen Erwartungen und Bedürfnisse ändern sich im Leben genauso, wie die uns umgebende Welt. Daher kann es immer wieder hilfreich sein, sich bewusst zu machen, ob das aktuelle Persönlichkeitsensemble noch zur aktuellen Situation und ihren Bedürfnissen passt oder nicht, um es dann gegebenenfalls neu zu gestalten.
Davon abgesehen entwickelt sich unsere Persönlichkeit aber auch ohne unser Zutun immer weiter. Und das ein Leben lang – die Persönlichkeit ist nicht irgendwann in Stein gemeißelt. Auch wenn wir einerseits immer dieselben sind, sind wir eben auch immer wieder anders.

5. Als Professor für Wirtschaftspsychologie und selbständiger Berater für Unternehmen beschäftigen Sie sich mit Sozialpsychologie, Organisationsberatung und betrieblicher Gesundheitsvorsorge. Kommen auch dort die Schattenseiten zum Einsatz?
Ja natürlich kommen sie das – zumindest in meiner Art und Weise der Lehre und Beratung. In der Sozialpsychologie sind es gerade unsere Schwächen, wie beispielsweise unsere Urteilsfehler, Stereotype oder selbstwertdienlichen Verzerrungen, die das menschliche Miteinander erst richtig bunt und lebendig machen. Ein Schwerpunkt meiner Unternehmensberatung klingt sogar ganz offiziell nach einer Schattenseite der täglichen Arbeit: Die „psychische Gefährdungsbeurteilung“ dient dazu, die Schattenseiten der Rahmenbedingungen bei der Arbeit zu identifizieren und versteckte Ressourcen zu nutzen.
Aber nicht nur in diesem übertragenen Sinne arbeite ich mit den dunklen Seiten des Menschen, sondern auch ganz konkret mit den in meinem Buch beschriebenen Schattenseiten der Persönlichkeit. Denn im Austausch mit unserem sozialen Umfeld – egal ob im privaten oder im beruflichen – bringen wir alle unsere Persönlichkeit mit. Das führt dann dazu, dass all unsere inneren Lichtgestalten genauso aufeinandertreffen wie unsere Kellerkinder. Aus diesem Grund sind die Schattenseiten der Persönlichkeit und ihr enormes Potenzial fester Bestandteil sowohl in meinen Vorlesungen als auch in der Beratung, in Trainings und Seminaren.


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