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Rezension zu
Effingers

"Effingers" von Gabriele Tergit

Von: Fraggle
05.10.2020

Fazit: Ich erwähne ja gelegentlich sinngemäß, dass ich Thea Dorn auch dann noch begeistert zuhören würde, wenn sie gerade ein vierstündiges Spontanreferat in einer mir unbekannten Sprache über die Außenhandelsbilanz von Surinam halten würde. Und nachdem Frau Dorn über „Effingers“ in den allerhöchsten Tönen schwärmte, war es daher nur zu folgerichtig, dass ich die Herausforderung dieser etwa 900 Seiten auf mich nehmen würde. Und das hat sich mehr als gelohnt. Die erzählte Geschichte beginnt im Jahr 1878 mit Paul Effinger, dem, geboren und aufgewachsen als Sohn eines Uhrmachers im ebenso beschaulichen wie fiktiven Kragsheim am Neckar, seine provinzielle Umgebung zu klein wird, der hochtrabende Pläne hat, und daher nach Berlin geht, um dort eine Fabrik hochzuziehen. Später tritt sein Bruder Karl in den Betrieb ein und heiratet zudem in die alteingesessene Bankiers-Familie Goldschmidt-Oppner ein. In der Folge begleitet die Autorin diese Familien durch das ausgehende Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg, die Weimarer Republik sowie die Zeit des Nationalsozialismus. Und allein aufrund des Zeitraums über den sich die Handlung erstreckt und des damit einhergehenden umfassenden Figuren-Ensembles kommt die Handlung sehr vielschichtig und abwechslungsreich daher. Zugegeben, das alles über die Dauer von 900 Seiten aufrecht zu erhalten, ist durchaus schwierig, und zwischenzeitlich kann die Schilderung des, überspitzt gesagt, viertausendsten Sonntagsessens mit anschließendem Mittagsschlaf in den unterschiedlichsten Räumen der heimischen Villa schon ermüdend wirken. Aber gerade diese Schilderungen, auch in ihrer Häufigkeit, sind meines Erachtens wichtig, um später den Kontrast herauszustellen, der sich im Leben der Familien aufgrund der veränderten politischen Gegebenheiten zwangsweise ergibt. Aber es lohnt sich dranzubleiben, und auch mal Schwächephasen in der Lektüre zu durchleiden, denn insgesamt wird man, nicht nur inhaltlich, mit einem wunderbaren Roman belohnt. Dass aber eben auch und gerade dieser Inhalt wichtig ist, muss angesichts eines erneuten Übergriffs vor einer Synagoge und der Tatsache, dass wir in einem Land leben, das seinen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern die Ausübung ihrer Religionsfreiheit in der Synagoge nur unter Polizeischutz gewährleisten kann, wohl nicht extra betont werden. Aber wahrscheinlich werden die, die dieses Buch am dringendsten lesen sollten, es sowieso wieder nicht lesen, vermutlich auch, weil sie gerade wieder damit beschäftigt sind, die Einschränkung ihrer Grundrechte durch die Alltagsmasken zu beklagen, während nur wenige Meter weiter tatsächlich Menschen, und zwar seit jeher und dauerhaft, eingeschränkt sind, wenn es um die Ausübung ihrer Grundrechte geht. Sei´s drum … Wenn man sich vom reinen Inhalt der Geschichte ab- und den Figuren zuwendet, dann fällt auf, dass die Autorin schon sehr nah bei ihren Figuren ist. Naturgemäß, bei einer derartigen Fülle von handelnden Personen, gefallen einem da einige mehr und andere weniger, allein weil man sich aufgrund der Dinge, die sie tun und sagen, unterschiedlich mit ihnen identifizieren kann. Dessen ungeachtet sind aber alle Charaktere nachvollziehbar und lebensnah gestaltet. Besonders erwähnenswert finde ich, wie gut es der Autorin gelingt, das Unverständnis ihrer Charaktere gegenüber ihren jeweiligen Nachfolgegenerationen darzulegen. So steht beispielsweise Waldemar Goldschmidt, geboren 1850, bereits dem Lebenswandel seiner Enkel mit ähnlichem Unverständnis gegenüber wie ich heute als mittelalter Mensch vor TikTok. Zeiten ändern sich oft schneller als Menschen … Stilistisch kann ich „Effingers“ nicht wirklich viel vorwerfen. Gut, 900 Seiten sind 900 Seiten sind 900 Seiten. Aber Gabriele Tergit versteht es, jede einzelne davon mit Leben zu füllen. Als einziger Kritikpunkt sei angemerkt, dass es oftmals eine irritierende Diskrepanz zwischen Erzählzeit und erzählter Zeit gibt. Als Beispiel sei hier sinngemäß eine Szene wiedergegeben, in der zwei Frauen miteinander einkaufen gehen. In der ersten und zweiten Zeile des Dialogs beschließt man, sich zu trennen und in unterschiedlichen Geschäften zu suchen, in der dritten gleicht man bereits ab, ob die Suche Erfolg gehabt hat. Als weiteres Beispiel stehen während eines Dialogs plötzlich Menschen mit im Raum, auf deren erwartetes Eintreffen zwar hingewiesen, deren eigentliches Ankommen aber nicht geschildert wird. Anfangs wirkte das auf mich wirklich teils verwirrend, teils befremdlich, aber wenn sich mal dran gewöhnt hat … Wenn man all das zusammen nimmt, dann kommt, wie erwähnt, ein ganz wunderbarer Roman dabei heraus. Darüber hinaus auch ein in seiner Urfassung sehr mutiger, denn „Effingers“ erschien bereits 1951. Vorausgegangen war eine mehrjährige, kräftezehrende Verlagssuche, denn in der deutschen Verlagslandschaft war man seinerzeit wohl der Meinung, dass die deutsche Leserschaft mit einem solchen Buch (noch) nicht konfrontiert werden wollte. Und der immer stärker um sich greifende Antisemitismus heutzutage scheint darauf hinzudeuten, dass sich daran nicht so wirklich viel geändert hat. Auch und gerade deshalb bleibt mir, wenn Frau Dorn sagt: „Dass dieses Buch nicht längst ein fester Bestandteil des deutschen literarischen Kanons ist, halte ich für einen Skandal.“, nichts anderes übrig, als ihr in vollem Umfang zuzustimmen. Wieder einmal …

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