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Rezension zu
Effingers

Zeitgeist at its best

Von: Leaf and Literature
10.10.2020

Wie sah es um die Jahrhundertwende auf den Straßen Berlins aus? Wovon lebten die Menschen? Was war en vogue, was ließ man sich schmecken, welche Themen wurden diskutiert, wonach sehnte man sich? Wenn es ein Wort gibt, das den Roman, um den es hier geht, gut beschreibt, dann ist es ZEITGEIST. Effingers ist ein deutsch-jüdischer, Jahrzehnte umfassender, fast 900-Seiten starker Familien-, Gesellschafts- und Großstadtroman. Das darf man erst einmal sacken lassen. Die Geschichte lässt sich kaum in einem Blogbeitrag zusammenfassen, denn sie beginnt 1887 und endet nach dem zweiten Weltkrieg. Im Kern stehen dabei drei Familien, deren Leben miteinander verwoben werden: die Goldschmidts, die Oppners und die Effingers. Während die ersten beiden Bankiersfamilien und Berliner Urgesteine sind, ist der alte Effinger als Uhrmacher in einer süddeutschen Kleinstadt tätig. Seine Söhne treibt es jedoch in die große weite Welt und so begegnen sich die Familien in Berlin. Gabriele Tergit wurde 1894 mit dem Namen Elise Hirschmann in eine jüdische Fabrikantenfamilie hineingeboren. Sie entdeckte schon als junge Frau ihr Interesse für soziale Belange und für das Schreiben. Mit einundzwanzig Jahren schrieb sie erste Artikel für die Zeitung und nach ihrem Studium und einer Promotion in Geschichte wurde sie zur Pionierin in einem bis dahin männlich dominierten Feld – sie schrieb Gerichtsreportagen. (Viele ihrer Reportagen sind in einem Sammelband mit dem fabelhaften Titel Vom Frühling und von der Einsamkeit erschienen, den ich sicher auch noch lesen werde.) Nachdem ihr erster Roman – Käsebier erobert den Kurfürstendamm – 1931 erschien und ein voller Erfolg wurde, nahm sie sofort die Arbeit an ihrem zweiten Werk auf. Doch durch den aufschäumenden Antisemitismus in Deutschland sah sich Gabriele Tergit gezwungen, das Land 1933 mit ihrem Mann und ihrem Sohn zu verlassen. Sie arbeitete daraufhin viele Jahre an dem Manuskript für Effingers, fand aber nach der Fertigstellung lange keinen Verleger und so konnte der Roman erst 1951 in der Bundesrepublik erscheinen. Leider fand er bei den Leser*innen kaum Anklang und war Jahrzehnte vergessen, bis er 2019 wiederentdeckt und neu aufgelegt wurde. Welch ein Glück! Tergit erzählt vom Schicksal der Familien, von Hochzeiten, sonntäglichen Essenseinladungen, Kindern und Kindeskindern, prunkvollen Häusern und dunklen Wohnungen, Fabriken und Theateraufführungen, finanziellen Turbulenzen, Krieg und Todesfällen. Ihr Blick wandert dabei immer wieder von Einzelpersonen und wunderbar pointierten Dialogen, zum spürbaren Wandel der Großstadt und des politischen Klimas im Land und wieder zurück zu den Figuren, die der Leserin mehr und mehr ans Herz wachsen. So entfaltet die Autorin ein geschichtliches Panorama, das sich liest wie ein mitreißender Familienroman und nicht ohne Grund wird Effingers mit den Buddenbrooks von Thomas Mann verglichen. Während sich der Roman zu Beginn noch gemächlich gibt und wir u.a. dem langsamen Aufstieg der Brüder Paul und Karl Effinger zu Berliner Großfabrikanten miterleben, nimmt er zusehends an Tempo auf. Die ohnehin kurzen Kapitel (es sind insgesamt 151 Stück) werden immer knapper, der Roman wird in der zweiten Hälfte noch vielstimmiger und reflektiert so die stets turbulenter werdenden Zeiten. Immer wieder ist man hingerissen von den detaillierten Beschreibungen der Zimmereinrichtung, der Mode, des Essens. Und immer wieder scheinen der Wandel, der Fortschritt, aber auch die Kluft zwischen den Generationen und das aufkeimende Übel des Nationalsozialismus durch. Der Roman beginnt mit einem Brief des siebzehnjährigen Paul Effinger, in dem er seinen Eltern in Süddeutschland vom “großen Aufschwung” und von seinem Leben “mitten in der großen Welt” berichtet. Im letzten Kapitel des Buches kommt ebenfalls Paul zu Wort, diesmal schreibt er als 81-jähriger Mann kurz vor der Deportation einen Brief an seine Kinder und Enkelkinder, in dem er sich wünscht, Gott möge ihm “einen schnellen Tod” gewähren. Hier schließt Tergit den erzählerischen Kreis und lässt ihre Leser*innen mit dem Gefühl zurück, ein wahrhaft großes Buch gelesen zu haben. Fazit Effingers ist vielstimmig, braucht daher aufmerksame Leser*innen und vor allem solche, die es nicht stört, ab und an den Stammbaum auf der letzten Seite zurate zu ziehen. Ich habe mir mit der Lektüre Zeit gelassen und war von der zweiten Hälfte noch begeisterter als von der ersten. Ich bin über viele wunderbare Begriffe gestolpert (“embellieren”, “soupieren”, “Oblomowerei”, “Hintenrumbutter”, “Grünkramladen” …) und mochte die Sprache insgesamt sehr. Einigen Figuren wäre ich gern ewig weiter gefolgt, aber vor allem Gabriele Tergits beachtliches Gespür für den Zeitgeist ist es, woran ich mich noch lange erinnern werde.

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