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Rezension zu
Herbst

Mädchen, das die Welt entziffert

Von: Bjoernandbooks
11.07.2021

Elisabeth Demand und Daniel Gluck verbindet eine Freundschaft. Sie ist 32, er 101. Mittlerweile in einem Pflegeheim untergekommen wird Daniel von Elisabeth mit Geschichten versorgt, Geschichten aus Büchern, Geschichten aus dem Leben, der Gegenwart, der Vergangenheit und auch der Zukunft. Als Elisabeth ein Kind war, waren sie Nachbarn, und der schon zum damaligen Zeitpunkt alte Mann brachte ihr seine Weltsicht nahe. Heute, im Jahr 2016, dominiert der Brexit das Zeitgeschehen Englands, wirft die Bevölkerung, die sich gegenseitig aufwiegelt, auf sich zurück. Und mittendrin, auf einem einsamen Eiland aus Sprache, Kunst, Zuneigung und Respekt, diese zwei Menschen mit ihren unterschiedlichen Lebenswegen, gemeinsamen Überzeugungen, die in permanenten Schleifen voneinander lernen. „Wir müssen die Hoffnung haben, sagte er, dass die Menschen, die uns lieben und uns ein wenig kennen, uns letztlich wirklich so gesehen haben, wie wir sind“. (S. 165) „Herbst“ ist Ali Smiths Auftakt ihres Jahreszeiten-Quartetts, einer Tetralogie über die Gegenwart im Zeichen der weitreichenden Entscheidung Großbritanniens zum EU-Austritt. Poetisch, mit unglaublich kreativer Lust am Fabulieren zeichnet Smith Figuren und Orte, vermischt Fiktion mit popkulturellen und politischen Anspielungen der Realität zu einer Collage, die es in sich hat. Im Zentrum immer die Frage „Was liest du gerade?“, die Frage nach der Beschäftigung mit Themen, die von Bedeutung sind, für jeden Einzelnen, aber auch für die Gemeinschaft. Daniel und Elisabeth stehen nicht nur für zwei Generationen, sondern auch für deren Verbindung, für eine Sichtweise auf die Gegenwart, die Reflexion, die kritisches Bewusstsein und gleichzeitig Leichtigkeit und Spaß vermittelt. Was sich vielleicht zunächst komplex und verkopft anhören mag, ist es in Ali Smiths Roman ganz und gar nicht. Die Passagen über Elisabeths mühsamen Versuch, einen Pass zu beantragen, erinnern an Kafkas Blick auf die Bürokratie, gepaart mit Monty-Python-Humor. Elisabeths Beziehung zu ihrer Mutter, die oftmals der Realität durch Einflüsse der Medien entrückt zu sein scheint, wird in der Distanz der beiden Frauen zueinander so liebevoll, so warmherzig, so humorvoll geschildert. Parallel dazu entspinnt sich auch ein Diskurs zum Thema Weiblichkeit in der Kunst sowie die Rolle der Frau als Künstlerin inklusive ihrer gesellschaftlichen Relevanz. Pauline Boty, weithin unbekannte Pop-Künstlerin der 1960er, und Christine Keeler, in die Profumo-Affäre verwickeltes Model, stehen dabei stellvertretend für die (Un-)Sichtbarkeit der Frau in medialen Diskursen. Smith zitiert, arbeitet intertextuell mit Keats und Shakespeare, verwirrt mit Unzuverlässigkeiten im Erzählen und das alles mit einer fulminanten Kraft. Das ist groß, das ist wichtig, das ist allumfassend und erscheint trotzdem auch so leicht. Die Konzeption ihrer Erzählung ist extrem kreativ, unfassbar klug, ihre Sprache bunt, wild, ungezügelt und gleichzeitig strukturell und kritisch. Ein Ouvertüre zu einem mutmaßlich bahnbrechenden Werk! Ich bin schier begeistert und freue mich umso mehr auf die weiteren Jahreszeiten.

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