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Rezension zu
Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Ein erhellendes wie berührendes Meisterwerk!

Von: Constanze Matthes
16.01.2022

Selbst ohne viel Wissen über die Geschichte Nordamerikas und dessen Ureinwohner gibt es Namen, die wohl jeder kennt. Geronimo (1829 – 1909), eigentlich Gokhlayeh oder Goyathlay, gilt als eine der angesehensten historischen Persönlichkeiten. Als Kriegshäuptling und Schamane der Apachen leistete er gegen die Besetzung seines Stammeslandes sowohl gegen mexikanische als auch US-amerikanische Truppen erbittert Widerstand, um sich allerdings nach jahrelangen Kämpfen 1886 mit seinen nur noch wenigen Stammesangehörigen zu ergeben und bis an sein Lebensende in verschiedenen Forts gefangen gehalten zu werden. Bei seiner Festnahme soll er gesagt haben: „Einst war ich frei wie der Wind, jetzt ergebe ich mich … und das ist alles.“ Nach diesem berühmten Zitat hat der mexikanische Schriftsteller Álvaro Enrigue seinen Roman genannt, der nicht nur über die leidvolle Geschichte der Apachen berichtet. Er verbindet auf einzigartige Weise die Vergangenheit mit der Gegenwart der USA. Alles beginnt wie ein Western mit teils grotesken und filmreifen Zügen. Man schreibt das Jahr 1836. In dem kleinen mexikanischen Ort Janos wird Camila, eine junge Witwe, von Apachen verschleppt. Die Ranch wird abgebrannt, die Familie ihres Schwiegersohns, der die Farm nach dem Tod von Camilas Mann übernommen hatte, getötet. Auch mit der jungen Frau gehen die Apachen nicht zimperlich um, sie wird gedemütigt und brutal behandelt, wenngleich sie auch Zeichen der Menschlichkeit erfährt. Erst Monate später macht sich ein Trupp unter dem Befehl des Leutnants José Maria Zuloaga auf die Suche nach der jungen Frau. Es ist ein bunt zusammengewürfelter Haufen, dem eine ehemalige Sängerin, ein Tanzlehrer, zwei Männer vom Stamm der Yaqui, die über viele Jahre gefangen gehalten worden waren, ein Rarámuri-Indio sowie ein Apache als Fährtenleser angehören. Gemeinsam begeben sie sich auf eine gefahrvolle Reise. Muss Zuloaga zu Beginn noch erleben, wie sich Männer heimlich von der Truppe davonschleichen, wachsen später schließlich seine Begleiter über sich hinaus und stellen besondere Fähigkeiten unter Beweis. Die wagemutigen Befreier werden schließlich Camila und die Apachen erreichen, das kann an dieser Stelle erzählt werden, ohne all zu viel zu verraten. Denn die Rolle der jungen Frau und vor allem eines Apachen-Jungen, der an ihre Seite gestellt wird und sie bewachen soll, wird erst viel später erzählt. Denn Enrigues Roman lädt ein zu einer Reise durch die Zeit und enthält zwei weitere Erzählstränge, die das Buch zu einem komplexen Werk machen. Geschildert wird darüber hinaus von den Kriegen zwischen Apachen sowie Mexikanern und US-Amerikanern in einem Teil des weiten Kontinents, in dem es im 19. Jahrhundert mehrfach Grenzverschiebungen gab, was nicht unerheblichen Einfluss auf das Zusammenleben zwischen den verschiedenen indigenen Stämmen und den Nachfahren der ersten europäischstämmigen Siedler hatte. Frieden und Krieg wechseln sich ab, die blutige Zeit wird bestimmt von Gesetzlosigkeit, in der die Rache das oberste Gebot ist. Selbst die unterschiedlichen indigenen Gruppen sind sich spinnefeind. Die letzten Apachen mit ihrem Schamanen Geronimo werden gefangen genommen, dezimiert und aufgerieben von den jahrelangen Kämpfen. In diesem eher sachlich wirkenden Erzählstrang stellt Enrigue eine ganze Reihe realer Personen vor, vorrangig Armeeangehörige, die mitunter auch Respekt gegenüber den Apachen zeigen, wie General Nelson Miles, der den Zug der Apachen begleiten soll. Der Befehl, Geronimo zu finden, kam von keinem Geringeren als von Präsident Grover Cleveland. In diesen sowohl fiktiven als auch historischen Kontext webt der Autor noch eine dritte Zeit mit ein – seine eigene. Enrigue, in 1969 in Guadalajara/Mexiko geboren, lebt und arbeitet in New York. Der preisgekrönte Schriftsteller hat sich intensiv mit der Geschichte der Apachen und dem Völkermord beschäftigt. Mit seiner Familie, seiner Frau, der Schriftstellerin Valeria Luiselli, und den Kindern, begibt er sich 2017 auf eine Tour zu den historischen Stätten im Grenzgebiet zwischen der USA und Mexiko. Geschichte wird so lebendig. Für die Reisenden sowie letztlich für den Leser. Erzählt wird von den besonderen Fähigkeiten der Apachen, ihrem einfachen Leben, der Aura Geronimos sowie dem leidvollen Leben aus Verdrängung, Umsiedlung, Kampf und Gefangenschaft. An vielen Stellen klagt Enrigue an, er hinterfragt das Thema Herkunft und Wurzeln, sinniert darüber, was dieses dunkle Kapitel nordamerikanischer Geschichte schließlich mit der Gegenwart macht, wie sind die USA zu jenem Staat geworden, wie er letztlich ist. Ein multikulturelles Land, in dem indes eine weiße Mehrheit politische wie gesellschaftliche Paradigmen bestimmen, es noch immer Rassismus und Unterdrückung in den unterschiedlichsten Ausprägungen gibt. „Jetzt ergebe ich mich, und das ist alles“ ist ein hochkomplexer und vielstimmiger Roman, der verschiedene sprachliche Stile in sich vereint. Ein berührendes wie erhellendes Werk für Kopf und Herz, für dessen anspruchsvolle Lektüre man jedoch eine gewisse Aufmerksamkeit und Zeit einplanen sollte. Eine Zeitleiste mit den wichtigsten Ereignissen, eine Übersicht der historischen Personen sowie Erklärungen zu bestimmten Ausdrücken wären für die trotz allem spannende Lektüre hilfreich gewesen. Gegen Ende verschmelzen die unterschiedlichen Zeitstränge. Der Besuch von Enrigue im Fort Sill (Oklahoma), wo sich Geronimos Grab befindet, und eine im Fort Sam Houston (Texas) angesiedelte Szene, in der der schon damals berühmte Schamane das rothaarige Baby einer jungen Frau in den Armen hält, lässt wohl keinen Leser kalt. Ein eindrückliches Meisterwerk!

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