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Rezension zu
Ich und Jimmy

Unkonventionelle Geschichten einer faszinierenden Frau

Von: Buecherbriefe
20.05.2022

In Brasilien erlangte Clarice Lispector schon zu Lebzeiten Kultstatus als Schriftstellerin und feministische Ikone, während sie in hiesigen Gewässern bislang nicht über den Status als Geheimtipp hinauskommt. Kann die Kurzgeschichtensammlung Ich und Jimmy daran etwas ändern? Ein Blick in meine Bücherregale offenbarte mir, dass dort überwiegend männliche Schriftsteller vertreten sind und damit dürfte ich zumindest im Klassiker Bereich nicht alleine dastehen. Klassische Literatur von weiblichen Schriftstellerinnen fristet, abgesehen von den üblichen Verdächtigen, leider immer noch ein Schattendasein in Regalen deutscher Leser. Es war also schon längst überfällig, diese Lücken zu schließen und da ich meinen Fokus momentan auf Kurzgeschichten lege, bot sich mit Ich und Jimmy eine gute Gelegenheit dazu. Clarice Lispector schrieb in ihrem kurzen Leben neben zahlreichen Romanen 84 Kurzgeschichten, von denen dreißig in dem hier vorliegenden Band versammelt sind. Diese umfassen dabei den gesamten Zeitraum ihres erzählerischen Schaffens, sowohl Erzählungen aus ihrem Frühwerk (etwa Ich und Jimmy) als auch aus ihrem Spätwerk (Tag um Tag) und sogar Geschichten aus ihrem Nachlass (Ein Tag weniger) sind hier vertreten. Ihr Werk dabei in irgendeiner Art und Weise zu charakterisieren oder einzuordnen, stellt sich dabei als nicht zu bewältigende Aufgabe heraus. Im Gegensatz zu meinem üblichen Vorgehen verzichte ich dieses Mal auch darauf, zumindest einige Geschichten zusammenzufassen: Die Wege, die sie mit ihren Erzählungen beschreitet, sind einfach zu vielfältig und unkonventionell, als dass einige wenige Worte meinerseits ihnen auch nur ansatzweise gerecht werden könnten. Darum versuche ich mich ihnen wenigstens anzunähern, indem ich einige Aspekte hervorhebe. Rein äußerlich handeln ihre Geschichten von geradezu banalen Alltagssituationen wie einer Zugfahrt oder einem Spaziergang, oft passiert dabei wenig bis gar nichts Nennenswertes. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, legt Lispector den Fokus ihrer Geschichten doch ganz klar auf die Gedankenwelt ihrer zumeist weiblichen Figuren. Prägende Motive ihrer Erzählungen sind dabei insbesondere die Rolle von Mann und Frau, die Emanzipation der Frau und damit einhergehend auch um die Loslösung von alten Denkmustern. Dabei variiert sie ihren Erzählton von Geschichte zu Geschichte, sodass wir eine gesunde Mischung aus humorvollen, tragischen und stellenweise auch zynischen Geschichten vor uns haben. Allen Geschichten gemein ist jedoch die unglaubliche schöpferische Kraft, die Lispector im Umgang mit der Sprache hat. Wir tauchen mit ihrer Hilfe tief in die Wahrnehmung ihrer Figuren hinab und es ist immer wieder von Neuem erstaunlich, was für Bilder sie für Gedanken und Gefühle findet. Noch für den unaussprechlichsten Gedanken findet sie ein (ungewöhnliches) Bild, das gleichermaßen klar und präzise und doch verworren und unverständlich ist. Das hört sich auf den ersten Blick widersprüchlich an, entspricht jedoch bei genauerer Betrachtung der Wirklichkeit eines inneren Gedankens. Das bedeutet allerdings auch, dass das Lesen ihrer Geschichten die beständige Aufmerksamkeit des Lesers fordert. Vollzieht man ihre Bilder nicht in Gänze nach, besteht die reale Gefahr, sich in den Geschichten zu verlieren und keinen Anschluss mehr an ihre weiteren Gedankenverästelungen zu finden. Darum eignet sich dieser Band auch nur bedingt als Nachtlektüre. Wer diesen Erzählungen allerdings die nötige Aufmerksamkeit widmet, wird mit einem umso ergiebigeren Leseerlebnis belohnt, dass noch lange in Erinnerung bleiben wird. Lispector wird oft mit Kafka verglichen und gewisse Parallelen sind nicht von der Hand zu weisen. Bei beiden steht die Handlung nicht im Mittelpunkt ihrer Erzählungen und bei beiden sind die Protagonisten Getriebene, die keine Kontrolle mehr über ihr Leben haben und in geradezu surreale Situationen geraten, die von einer gewissen Tragik und Komik durchzogen sind. Ein wesentlicher Unterschied ist wohl darin auszumachen, dass der Kontrollverlust bei Kafka von übernatürlichen Mächten herrührt, während Lispectors Figuren Opfer der gesellschaftlichen Strukturen sind. Damit enden allerdings schon die Ähnlichkeiten. Während Kafka in seinen Erzählungen betont sachlich bleibt und eine journalistische Distanz zu seinen Lesern aufbaut, erleben wir bei Lispector das genaue Gegenteil. Es ist gerade ihr Ziel, die menschliche Gefühlswelt bis ins kleinste Detail auszuloten und darzustellen. Dadurch sind ihre Geschichten auch deutlich zugänglicher und nahbarer. Wenn man also schon den Vergleich mit Kafka bemüht, dann richtig, nämlich: Lispector ist Kafka mit Herz! Genauso faszinierend wie ihre Geschichten ist Clarice Lispectors Leben selbst. Sie wurde 1920 als Chaja Pinkussowna Lispektor in der heutigen Ukraine geboren. Schon kurz nach ihrer Geburt entfloh ihre Familie dem Hass, der der jüdischen Bevölkerung entgegenschlug und landete über Umwege in Brasilien, wo sie ihren heutigen Vornamen annahm. Nach einem erfolgreich absolvierten Jura Studium heiratete sie einen Diplomaten, den sie auf seinen Stationen in Europa und Amerika begleitete. Während dieser Zeit begann sie auch erste Erfolge als Schriftstellerin zu erzielen. 1959 ließ sie sich schließlich nach sechzehn Jahren Ehe von ihrem Mann scheiden und erlangte in den folgenden Jahren als Schriftstellerin und Journalistin endgültig Kultstatus, bevor sie 1977 an Krebs verstarb. Ich und Jimmy erscheint in der Manesse Bibliothek der Weltliteratur, die zuletzt 2017 eine Neugestaltung erfahren hat. Im Zuge dessen wurden die in die Jahre gekommene Buchgestaltung durch ein zeitgemäßes Äußeres ersetzt. Das ist eine Entwicklung, die ich damals grundsätzlich begrüßt habe, konnte ich den altbackenen Schutzumschlägen doch wenig abgewinnen. Dem Verzicht auf einen Leineneinband werde ich hingegen wohl ewig hinterhertrauern, gehören doch Klassiker und Leineneinbände in meinen Augen untrennbar zusammen. Das ist insbesondere deswegen zu bedauern, da wir – abgesehen vom fehlenden Leineneinband – ein schönes und hochwertiges Buch vor uns haben. Neben einer Fadenheftung, einem Leseband und bedruckten Vor- und Nachsatz begeistert vor allem der Gesamteindruck – hier wurde wirklich jede Komponente farblich perfekt aufeinander abgestimmt. Darüber hinaus finden wir im Anhang einen kleinen Abschnitt mit interessanten – zum Verständnis allerdings nicht unbedingt notwendigen – Anmerkungen und ein recht unterhaltsames Nachwort von Teresa Präauer, das den Band insgesamt abrundet. Fazit: Mit Ich und Jimmy liegt eine Sammlung vielfältiger und unkonventioneller Geschichten einer großartigen Schriftstellerin vor. Wer Freude an Sprache und Kurzgeschichten hat, wird um dieses Buch nicht herumkommen!

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