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Rezension zu
Gehe hin, stelle einen Wächter

Kaffeeklatsch und Ku-Klux-Klan

Von: Atalante
21.07.2015

Harper Lees verschollener Erstling erzählt vom Erwachsenwerden „Die Hölle war und würde, was Jean Louise betraf, immer ein feuriger Pfuhl sein, dessen Ausmaße ungefähr genauso groß wie Maycomb, Alabama, waren und der von einer fünfzig Meter hohen Mauer umschlossen wurde. (...) Die Hölle, das ist ewiges Getrenntsein. Was hatte sie bloß getan, dass sie sich den Rest ihres Leben (sic!) nach ihnen sehen musste, heimliche Abstecher in eine lang zurückliegende Zeit unternahm, aber keine Reise in die Gegenwart? Ich bin ihr Blut und ihre Knochen, ich habe in dieser Erde gegraben, das hier ist mein zuhause. Aber nein, ich bin nicht ihr Blut, und der Erde ist es egal, wer in ihr gräbt, ich bin eine Fremde auf einer Cocktailparty.“ Harper Lee wurde durch ihren bislang einzigen, 1960 veröffentlichten Roman „Wer die Nachtigall stört“ weltberühmt. Darin kämpft der Anwalt Atticus Finch in einem kleinen Provinzort in Alabama gegen den Rassismus der Südstaaten. Dieses Maycomb ist unschwer mit Monroeville zu identifizieren, wo Harper Lee 1926 geboren wurde und heute noch lebt. Den vorliegenden Roman „Gehe hin, stelle einen Wächter“ vollendete Lee 1957, er ging dem eigentlichen Debüt der Autorin voraus. Das Manuskript wurde jedoch von ihrer einstigen Lektorin Theresa von Hohoff abgelehnt. Sie bat die Autorin, sich auf die Rückblicke ihrer Protagonisten zu konzentrieren und daraus einen neuen Roman zu fertigen. Nur zu verständlich, denn diese Kindheit bot starke Szenen, etwa die eines nachgespielten Gottesdienstes, bei dem die Kinder die Taufe in den modrigen Goldfischtümpel der Nachbarin verlegten und von Pfarrer und Vater im Hintergrund beobachtet werden. Im nun erschienenen Roman ist aus der kleinen Scout die 26-jährige Jean Louise geworden. Die Tochter des gerechten Atticus lebt in New York und kehrt im Sommer für zwei Urlaubswochen nach Maycomb zurück. Ihr gealterter Vater teilt sich mittlerweile mit seiner Schwester Alexandra ein neues Heim. In seine Kanzlei hat er, nach dem plötzlichen Tod seines Sohnes Jem, Henry aufgenommen. Ein Kinderfreund der Geschwister, von dem man in der „Nachtigall“ weniger erfährt als von Dill, einer Truman Capotes nachempfundenen Figur, der im neuem Roman in Italien lebt. Henry oder Hank, wie Jean Louise ihren Freund nennt, inszeniert Lee nicht nur als Nachfolger Finchs, sondern auch als künftigen Ehemann von Jean Louise. Diese sträubt sich zunächst dagegen. Sie plant eine andere Zukunft, fern der Erwartungshaltungen Maycombs. Ihr eigenwilliger Widerspruchsgeist führt zu flottem Schlagabtausch, vor allem mit Henry und Alexandra, stets begleitet von einem inneren Monolog voll pointierter Ironie. Die Abnabelung von der Heimat und die Veränderung in Jean Louise verdeutlicht die Autorin durch Gegensatzpaare. Der Weltstadt New York steht der Kaffeeklatsch des Provinzkaffs gegenüber. Aus Atticus Finch, dem vitalen Vater, wird ein arthritischer Alter. Er tauscht nach dem Verlust von Kindern und Kraft das Familienhaus gegen einen Altersruhesitz. Und die Bemutterung der warmherzigen Haushälterin Calpurnia weicht den Bevormundungsversuchen Tante Alexandras. Wenn Jean Louise am Ende diesen Wandel erkennen muss, ist aus dem Racker Scout endgültig eine junge Frau geworden. Doch davor steht der dramatische Wendepunkt des Romans. Er erschüttert das Selbstbild Jean Louises, die bis dahin vollkommen auf die Figur des Vaters fixiert war. Ort und Anlass sind wie bei einer Gerichtssache akribisch notiert. An einem Sonntag um14 Uhr 18 findet Jean Louise unter Atticus’ Unterlagen ein rassistisches Pamphlet des Ku-Klux-Klan. Aufgewühlt stürmt sie zum Bürgerrat, versteckt sich in der gleichen Loge, von der sie einst Atticus’ Kampf für das Gerechte verfolgte, und sieht nun wie er beim Unrechten mitmacht. Neben ihm sitzt Henry, den sie, das wird nun klar, niemals heiraten wird. Ohnmächtig wankt sie zurück, nimmt noch ganz in der Erinnerung verhaftet den früheren Weg. Aber dort wo sie ihre geborgene Kindheit verbracht hat steht nun eine Eisdiele. Nach einem kurzen Moment der Schwäche stellt sich Jean Louise der Konfrontation, die der bis dahin spannende Handlungsverlauf erwarten lässt. Doch diese und damit die letzten hundert Seiten fallen enttäuschend aus. Drei große thesenlastige Dialoge dienen Lee, um die gesellschaftspolitischen Hintergründe darzulegen. Zunächst spricht Jean Louise mit Jack, dem intellektuellen Bruder Atticus’. In einem sokratischen Zwiegespräch vermittelt er die Geschichte Maycombs und die daraus resultierenden Zwänge. Seinen Bruders charakterisiert er als stolzen Traditionsbewahrer, was seine Anwesenheit beim Bürgerrat rechtfertige. In der folgenden Unterredung mit Henry konfrontiert Jean Louise diesen mit ihrem Entschluss, ihn niemals zu heiraten. Henry begründet seine Anwesenheit bei der Rassistenversammlung mit seinem geringen Status, er müsse sich anpassen um in Maycomb bestehen zu können. Hat Lee in diesem zweiten Dialog das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft erläutert, so schließt sie die Vater-Tochter-Debatte an, um auf die Eigenständigkeit Alabamas zu verweisen. Diese will man sich nicht durch Beschlüsse einer fernen Regierung nehmen lassen. Maycomb entscheide immer noch alleine, wie es „die Neger“ behandeln will. Diese Versuche, den Stein des Anstoßes zu umgehen, sind nicht nur für Leser des 21. Jahrhunderts unbefriedigend. Auch seine Hauptfigur begehrt dagegen auf und wird schließlich mit körperlicher Gewalt zum Schweigen gebracht. Für mich nimmt der Roman dadurch ein kurioses Ende, das noch dazu offen bleibt. Jean Louise hält an ihrer „Farbenblindheit“ fest, allerdings „achtet sie diesmal darauf, sich nicht den Kopf zu stoßen“ an den Maycomber Verhältnissen. Für die Ablehnung des Manuskripts durch die Lektorin mag die brisante rassenpolitische Situation der fünfziger Jahre verantwortlich sein. Oder waren es doch die formalen und inhaltlichen Schwachstellen des Romans? Neben kleineren sprachlichen, wie „leere Autos ... parken“, finden sich auch inhaltliche, etwa wenn Lee die Erinnerung an die Bestattung des Bruders im unpassenden Scout-Ton wiedergibt oder die gelungene Charakterisierung von Positionen durch aufgefädelte Gesprächsfetzen durch häufige Wiederholung strapaziert. Bis auf diese Einschränkungen ist Harper Lees nun publizierter Erstling ein spannender Roman, dessen Heldin standhaft „farbenblind“ bleibt.

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