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Rezension zu
Gehe hin, stelle einen Wächter

Scout findet ihr eigenes Gewissen

Von: Kim F
26.07.2015

Mit ihrem ersten veröffentlichten Werk „Wer die Nachtigall stört“ gelang der US-amerikanischen Autorin Harper Lee 1960 ein Welterfolg, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und auch verfilmt wurde. Ihr Erstlingswerk „Gehe hin, stelle einen Wächter“ jedoch galt lange Zeit als verschollen, bis es im letzten Jahr wiederentdeckt wurde. Wir treffen darin erneut auf die Charaktere aus „Wer die Nachtigall stört“. 20 Jahre später kehrt die mittlerweile erwachsene Jean Louise Finch („Scout“) von New York nach Maycomb, Alabama zu ihrem kranken Vater Atticus zurück und sieht sich wieder mit dem Konflikt um die Rechte der Schwarzen konfrontiert, der auch das Bild, das sie von ihrem geliebten Vater all die Jahre hatte, zu erschüttern droht… Als große literarische Sensation wurde uns Harper Lees endlich wieder gefundenes erstes Werk verkauft, das uns in den 1950er Jahren mit der nun erwachsenen Scout wieder nach Maycomb heimkehren lässt. Sie lebt mittlerweile seit Jahren in New York und kehrt jedes Jahr für zwei Wochen in ihr Zuhause zurück. Ihr Besuch wird uns von Scout mit herrlicher bissiger Ironie erzählt, von ihrer Konfrontation mit den konservativen Ansichten ihrer Tante Alexandra, die sich mittlerweile um Scouts unter Arthritis leidenden Vater kümmert, und der Gemeinde, von ihren Treffen mit dem Gehilfen ihres Vaters in der Kanzlei, Henry, den ihre Tante für nicht gut genug für sie hält, und von ihrem entsetzten Wahrnehmen der Konflikte um die Rechte der Schwarzen in den Südstaaten. Unterbrochen werden die Ereignisse während ihres Urlaubs immer wieder von Rückblenden in Scouts Kindheit, die auch kurz auf Ereignisse aus „Wer die Nachtigall stört“ hinweisen. Den Rassekonflikt erlebt man vor allem aus der „Außensicht“ von Scout, die in New York einen toleranteren Umgang mit der Thematik gewohnt ist und nun auf die festgefahrenen Ansichten ihrer Heimat trifft und die Welt nicht mehr versteht, als plötzlich auch ihr Vater an Versammlungen mit Rassisten teilnimmt und Schriften des Ku-Klux-Klans liest. Lee bettet diese Auseinandersetzung auch in den immer noch schwelenden Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten ein, die selbst entscheiden wollen, wie sie mit den Schwarzen umgehen. Generell geht die Autorin mit dieser Thematik sehr differenziert um, zeigt die sehr facettenreichen Positionen auf, was das Buch ehrlicher und realistischer als „Wer die Nachtigall stört“ erscheinen lässt. Der vermeintliche Held Atticus wird gestürzt, wird zu einem Menschen mit Fehlern und Schwächen und auch Scout ist bei aller Toleranz im Verhältnis zu ihren Mitmenschen nicht frei von Rassedenken. Stärker empfand ich jedoch das Buch bei der Herausstellung der Abnabelung Scouts von ihrem Vater und ihrer Heimat, etwa steht an der Stelle ihres alten Hauses nun eine Eisdiele. Scout macht ihre letzten Schritte in Richtung Erwachsenenleben und muss erkennen, dass ihr Vater, den sie immer vergöttert hat und dessen Ansichten auch die ihren waren, auch nur ein Mensch mit ganz normalen Schwächen ist, von dem sie sich lösen und mit dessen Positionen sie sich kritisch auseinandersetzen muss. Der Autorin gelingt ein eindrucksvoller Appell an die Entwicklung eines eigenen Gewissens: „Die Insel eines jeden Menschen, Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht. (…) und du, die du mit einem eigenen Gewissen geboren wurdest, hast es irgendwann an das deines Vaters geheftet, wie eine Klette. Als Heranwachsende, als Erwachsene hast du deinen Vater mit Gott verwechselt, ohne es selbst zu merken. Du hast ihn nie als einen Mann mit dem Herzen und den Schwächen eines Mannes gesehen. Zugegeben, vielleicht waren Letztere schwer zu erkennen, weil er so wenige Fehler macht, aber er macht sie, genau wie wir alle. Du warst ein emotionaler Krüppel, hast dich auf ihn gestützt, Antworten von ihm übernommen, geglaubt, dass deine Antworten immer seine Antworten sein würden.“ (S. 299/300) Ich will nicht die ganze Zeit wieder auf „Wer die Nachtigall stört“ zurückkommen, „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist für sich genommen absolut lesenswert. Es weist ein paar Schwächen in der Handlung auf, einzelne Erzählstränge werden nicht zu Ende geführt. Auf mich wirkte es ein wenig unvollendet, weshalb die Umstände, die zur Veröffentlichung geführt haben, wissenswert gewesen wären. Wurde es noch einmal überarbeitet, war es wirklich verschollen, warum stimmte die Autorin der Veröffentlichung jetzt zu? Scout war mir auch nicht mehr so sympathisch wie noch als Kind, sie war etwas ignorant und uninteressiert an den Themen ihrer Zeit, ihr Vater verliert auch durch seinen Umgang mit der Schwarzenthematik an Sympathie, wenn er auch immerhin menschlicher und damit realistischer wird. Das Buch kommt zwar nicht an „Wer die Nachtigall stört“ heran, ist aber immer noch sehr gut. Fazit Die groß angekündigte literarische Sensation ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ zwar nicht. Der Autorin ist jedoch ein großer Roman zum Konflikt um die Rechte der Schwarzen in den Südstaaten der 1950er Jahre gelungen, der vor allem aufgrund seiner darin eingebetteten Geschichte um Scout und ihre Abnabelung von ihrem Vater überzeugt. Bei diesem eindrucksvollen schriftstellerischen Talent ist es wirklich zu bedauern, dass Harper Lee bloß zwei Romane veröffentlicht hat!

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