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Rezension zu
Runas Schweigen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Klasse Debüt!

Von: Devona
27.08.2015

Das Debüt von Vera Buck überzeugt mich auf der ganzen Linie. Ich möchte allerdings vorausschicken, dass dies bei Lesern, die sich nicht für medizinische Themen interessieren, nicht unbedingt der Fall sein muss, ein Großteil der Handlung ist damit befasst und es wird auch das entsprechende Vokabular benutzt. Wobei man nun auch nicht grade das komplette medizinische Latein parat haben muss, ein gewisses Grundinteresse ist ausreichend Ich hatte einen spannenden und unterhaltsamen Roman erwartet, der Klappentext sprach mich an. Nach den ersten Seiten wurde mir klar, dass in „Runa“ noch sehr viel mehr steckt und ich habe zunächst das Nachwort gelesen, in dem Vera Buck erklärt, eine fiktive Geschichte um die durchaus realen Ge- und Begebenheiten der Zeit um 1880 in Paris allgemein und im speziellen das Hôpital de la Salpêtrière und seinen damaligen Leiter Jean-Martin Charcot gestrickt zu haben. Das Arsenal an Literatur, welches sie für die Recherche benutzt hat, ist gigantisch, hat mich schwer beeindruckt und ist dem Roman anzumerken. Hier ist nichts, was es an Fakten zu recherchieren gab, dem Zufall überlassen worden und allein dafür würde ich dem Roman 5 Sterne geben. Ich habe in letzter Zeit einiges gelesen oder gehört, bei dem ich mich gefragt habe, ob da ÜBERHAUPT IRGENDWAS recherchiert wurde. Insofern war dieser Roman jetzt eine kleine Offenbarung für mich. Da ich zum Thema völlig ahnungslos war und Wikipedia auch meist nur die Erfolgsfakten von Wissenschaftlern und Ärzten verbucht, war ich beim Lesen schnell an einem Punkt, an dem ich wissen wollte, was genau nun Realität und was Fiktion ist. Mir war nicht klar, dass Dr. Charcot seine Patienten in der Tat wie in einem Zirkus vorgeführt hat (es gab sogar eine Art Arena dafür). Ebenso wenig wusste ich, dass zur damaligen Zeit die Diagnose „Hysterie“ ein Sammelbegriff für alle Symptome psychischer Krankheiten (in diesem Fall weiblicher) war, welche primär den weiblichen Geschlechtsorganen zugeschrieben wurden und die entsprechend „behandelt“ wurden. Sei es mit einer (medizinisch völlig nutzlosen) „Ovarienpresse“, die ebenfalls von Charcot erfunden wurde und mit deren Hilfe bei seinen Vorführungen Frauen gequält und „hysterische Anfälle“ provoziert wurden, oder sei es durch (die uns heute nur noch aus der dritten Welt geläufige) Beschneidung der äußeren Geschlechtsorgane von Frauen (damals z.B bei Selbstbefriedigung). Das ist schon harter Tobak. Charcot hat wohl zweifellos einige Verdienste als Wegbereiter der modernen Psychologie, welche einige Jahre später von Freud begründet wurde, die damalige Realität liest sich aber insgesamt aus heutiger Sicht recht menschenverachtend. Besonders nachdenklich stimmt die Tatsache, dass unter der Hysterie- Diagnose häufig auch nonkonformes gesellschaftliches Verhalten von Frauen verbucht wurde, die dann in den Tiefen der psychiatrischen Hospitäler unter wirklichen kranken Menschen ein vergessenes Dasein fristeten und letztendlich selber psychisch krank wurden. Der Roman wird auf 3 verschiedenen Ebenen erzählt, die gegen Ende geschickt miteinander verknüpft werden. Zum einen gibt es den Ich-Erzähler Maxime Chevrier, der -wie man am Ende weiß- letztendlich derjenige ist, der die gesamte Geschichte niedergeschrieben hat. Er taucht nach der Widmung des Buches (ungewöhnlich, aber passend!) und dem Prolog erst nach ungefähr einem Drittel der Geschichte wieder auf und man kann zunächst überhaupt nicht einordnen, was er da soll bzw. was er überhaupt mit der Geschichte zu tun hat. Der restliche Teil des Romans ist in auktorialer Erzählform wechselnd aus Joris oder Monsieur Lecoqs Perspektive geschrieben. Joris Teil der Geschichte findet überwiegend in der Salpêtrière statt und ist mit dem medizinischen Teil befasst: er möchte das seltsame Mädchen Runa, welches Charcots „Dressurversuchen“ vehement widersteht, nicht nur wegen des Dr.-Titels als solchem am Gehirn operieren. Er braucht ein „Referenzobjekt“ und die damit in Zusammenhang stehende Reputation. Er verspricht sich damit die Möglichkeit, der Frau die er liebt -Pauline, die Schwester seines besten Freundes Paul, der ebenfalls Arzt ist- helfen zu können. Denn auch Pauline ist mit der Diagnose Hysterie belegt, dem Leser dämmert hier zum ersten Mal, was es damit auf sich hat. Wird doch Pauline in vielen Rückblenden in Joris Erinnerungen als selbstbewusste, temperamentvolle, wissbegierige und unangepasst-lebenslustige junge Frau beschrieben, zu der die sie später lähmenden Depressionen so überhaupt nicht zu passen scheinen. Jori möchte den Pauline im Schweizer Burghölzli drohenden Beschneidungseingriff, der von Paul und auch ihren Eltern befürwortet wird, ersparen und stattdessen einen Eingriff am Gehirn vornehmen. Doch dazu muss er Runa oprieren, gab es doch bis dato noch keinen chirurgischen Eingriff am Gehirn, der psychische Krankheiten geheilt hätte. Vera Buck gelingt es meisterhaft, die Zerissenheit und gleichzeitige Gefangenheit im Denken seiner Zeit an Jori zu demonstrieren. Auch Runa tu ihm leid, auch Runa möchte er helfen, er empfindet Charcots Umgang mit ihr als menschenverachtend. Doch auch dazu sind „Voroperationen“ an lebenden „Lernobjekten“ nötig, deren 5 an der Zahl Charcot zur Verfügung stellt und deren Ableben einkalkuliert ist. Es sind weitestgehend „vergessene“ Irre, die vor vielen Jahren hinter den dicken Mauern der Salpêtrière verschwanden und keine Angehörigen mehr haben, die berechtigte Fragen stellen könnten. Nun werden sie als im Dienste der Wissenschaft in den Status von Versuchskaninchen erhoben und genau das ist auch Jori bewusst, auch das ist aus heutiger Sicht menschenverachtend. Er möchte nicht, dass sie bei diesen Versuchen sterben, aber er kalkuliert es ein, um die an ihnen gemachten Erfahrungen bei Runa dann zu vermeiden. Vera Bucks Ausgabe von Monsieur Lecoq -literarisch erfunden eigentlich von Émile Gaboriau gilt er als Vorgänger von Sherlock Holmes- ist ein freakiger Detektiv und Ex-Polizist, der sich bei seiner Arbeit von den Grundsätzen der Lehren von Lombroso leiten läßt, weshalb er sich selber auch als Verbrecher bezeichnet: er ist der Überzeugung seine Physignomie sei die eines Verbrechers. Trotz oder gerade wegen seiner teilweise wirren und schrägen Ansichten ist er ein brillanter Ermittler. Durch den Auftrag eines Klienten stößt er auf Runas Spuren in Paris, an vielen Stellen werden mysteriöse Schriftzeichen gefunden, denen er akribisch nachgeht. Während sich beide Teile der Geschichte und letztendlich eingeflochten auch die des Ich-Erzählers langsam aufeinander zubewegen, läßt Vera Buck eben diesen auch den Stein des Anstoßes für den ab da sehr temporeichen Showdown und die Verknüpfung aller Teile der Geschichte machen. Der apruppte Tempowechsel und die sich überschlagenden Ereignisse am Ende haben mich temporär etwas verwirrt, das wäre aber auch mein einziger, winziger Kritikpunkt. Es gibt keine krampfhafte Auflösung, die mich oftmals in Büchern, bei denen am Ende viele lose Handlungsstränge in Ermangelung schlüssiger Ideen wirr miteinander verknüpft werden, verzweifeln läßt. Alles paßt oder ist vorstellbar. Vera Buck hat mit „Runa“ nicht nur ein tolles Buch geschrieben, sondern mich auch auf ein interessantes Thema geschubst, zu dem es unendlich viel zu entdecken und zu lernen gibt, ich habe schon einige Stunden mit weiterführender Fachliteratur verbracht. Natürlich verlangt man so etwas von einem Romanschreiber nicht, aber es ist ein angenehmer und willkommener Nebeneffekt, für den ich mich bedanke.

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