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Rezension zu
Gehe hin, stelle einen Wächter

Kill your darlings

Von: Bri
27.01.2016

Die kleine Scout, eigentlich Jean-Louise Finch, aus "Wer die Nachtigall stört" ist erwachsen geworden und lebt mittlerweile weit entfernt von ihrem Heimatort Maycomb in der Großstadt. New York ist mit seiner Vielstimmigkeit, seiner Vielfarbigkeit und seinem wahren Verständnis von leben und leben lassen ihre Herzensheimat geworden. Diese Erkenntnis muss sie bei einem ihrer jährlichen Besuche schlucken wie eine bittere Pille. Die Atmosphäre in der Kleinstadt hat sich verändert - der NAACP möchte auch in Maycomb / Alabama die farbige Bevölkerung in ihrem gesellschaftlichen und sozialen Aufstieg unterstützen. Und das wiederum macht der weißen Bevölkerung, die im County an einigen Orten mittlerweile in der Minderzahl ist, schlichtweg Angst. Die Einwohner Maycombs sind keine offenen Rassisten - sie sind zwar laut Atticus Finch, dem Vater Scouts keine Mitglieder des Ku-Klux-Klans, verhindern aber auch nicht, dass der Klan sich durch sein Auftreten öffentlich lächerlich macht - fühlen sich aber bedroht. Woran nur erinnert mich das? Vielleicht an die derzeitige Situation in Europa? Und schon bin ich mitten in der Diskussion, die sich während der Lektüre immer deutlicher als Mittelpunkt des erst 2014 wieder entdeckten Romans, der Urfassung des Pulitzerpreis gekrönten Erstlings der Amerikanerin Harper Lee, darstellt. Viel wurde darüber diskutiert, ob das Buch, das Harper Lee in den 50er Jahren schrieb und dessen thematischer Fokus von den Verlagen damals als zu gewagt betrachtet wurde, als dass man es verlegen wollte, überhaupt erscheinen sollte. Die Autorin selbst ist mittlerweile hochbetagt, soll taub und blind sein - ob sie tatsächlich abschätzen konnte, was die Veröffentlichung dieses Romans für sie heißen könnte, wird häufig diskutiert. Doch ehrlich: Warum sollte man sich in dem Alter, in dem Harper Lee nun ist, über solche Dinge noch Gedanken machen. Wichtig allerdings ist, dass das Thema des Buches, in der Urfassung für die damalige Zeit als zu aufrührerisch, zu verwegen empfunden, um veröffentlicht zu werden - ein heißes Eisen ist, heute wie damals. Ist es zulässig, Verfassungsänderungen vorzunehmen, die einerseits einer Gruppe von Menschen gewisse Rechte nehmen, die als unumstößlich und nicht diskutierbar galten, aber andererseits zu einer höheren gesellschaftlichen Gleichheit führen sollen. Ist das Vorgehen, einen Verfassungszusatz einfach zu streichen - wohl gemerkt durch ein hohes richterliches Gremium, aber ohne Beteiligung der Bürger - als demokratisch zu bezeichnen? Ein nicht einfaches Thema, dessen sich Harper Lee in "Gehe hin, stelle einen Wächter" in Verbindung mit der Frage nach Diskriminierung und Rassismus annimmt. Das merkt man der sich daraus entstehenden Diskussion zwischen Jean-Louise und ihrem Vater Atticus an: Sprunghafte Argumente und Erklärungen, die man nicht ganz greifen kann, führt Atticus für seine Entscheidung, einem bekannten Rassisten eine Plattform zur Verbreitung seiner menschenverachtenden Ansichten zu bieten, an. Die Antwort auf die Frage seiner Tochter, weshalb die Entscheidung zu Gunsten des unsäglichen Redners gefällt wurde, verknappt er in unnachahmlicher Weise: "Weil er es wollte." Einzig Jean-Louises Haltung ist und bleibt klar und deutlich. Um sie herum steht ihre Welt Kopf - alles, was sie von ihrem Vater erfahren und gelernt hat, scheint nicht mehr zu gelten. Die Annahme, alle Menschen seien vom Geburtsrecht her gleich zu behandeln steht plötzlich in krassem Gegensatz zu DEM amerikanischen Grundsatz, ein Mann könne alles für sich in Anspruch nehmen, was er sich erarbeitet habe. Farbenblind nennt Atticus die Einstellung seiner Tochter. Der Konflikt, den Jean-Louise mit ihrem Vater hat, ist aber nicht nur ein gesellschaftlicher. Eltern-Kinder-Beziehungen zeichnen sich auch durch eine gewisse Ablösung oder Abnabelung aus. Im Falle der Familie Finch ist diese vielleicht überfällig. Solch eine Abnabelung geht nie schmerzfrei vonstatten und so erfährt Jean-Louise auch ganz körperlich, wie hart es sein kann, seinem Wächter, dem eigenen Gewissen, Folge zu leisten. Doch letztendlich - und das ist für mich ein gewisser Kritikpunkt - bezieht sie nicht eindeutig Position. So sehr sie gegen die Haltung ihres Vaters, gegen die duckmäuserische Lebensweise ihres Freundes Hank und gegen die latent rassistische Haltung der Bürger Maycombs aufbegehrt, sie vollzieht den Schritt des absoluten Schnittes nicht. Am Ende bleibt große Aufregung, die sich in einem "leben und leben lassen" auflöst. Jean-Louises Onkel Jack Finch allerdings erkennt, dass Menschen wie sie in Zukunft in Maycomb gebraucht werden. Dennoch ist "Gehe hin, stelle einen Wächter" ein wichtiges Buch, das aufzeigt, wie komplex manche Sachverhalte sind, wie schwierig echte Demokratie ist und wie stark man sein muss, um seinem Wächter zu folgen. Will man die gesellschaftliche Gemengelage der 50er Jahre in Amerika besser verstehen, sollte man nicht nur eines der beiden Bücher gelesen haben. Literarisch gesehen, mag "Wer die Nachtigall stört" das reifere Werk sein, seine Urfassung jedoch hat es durchaus verdient, veröffentlicht und gelesen zu werden.

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