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Rezension zu
Die Schneekönigin

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Mehr als ein Märchen

Von: the lost art of keeping secrets
06.02.2016

Andersens Kunstmärchen ist komplizierter als viele andere Märchen. Kay und Greta sind Nachbarskinder und Kay passiert ein Unglück: im fällt ein Spiegelsplitter ins Auge, der dafür sorgt, dass Kay die Welt nur noch als hässlich und schrecklich wahrnimmt. Der Spiegel gehörte eigentlich dem Teufel, aber dem rutschte das Ding einfach aus den Händen. Kay ist durch den Splitter in seinem Auge so verblendet, dass er der Schneekönigin hinterherläuft, die ihn in ihrem eisigen Palast erst küsst, so dass Kays Herz zu Eis erstarrt und anschließend gefangen nimmt. Gerda setzt Himmel und Hölle in Bewegung um Kay zu retten. Am Ende sind es ihre Tränen, die Kays Splitter wegspülen und dafür sorgen, dass beide endlich nach Hause können. Happy End. In Michael Cunninghams Roman Die Schneekönigin wird die Andersen Referenz holzhammerartig, aber konsequent durchgezogen. Das Ergebnis ist ein bisschen kitschig und trotzdem sehr berührend. Gerade weil der Roman am Ende sehr viel mehr als ein Märchen ist. Die Geschichte von Cunningham spielt in New York, es ist Winter in Bushwick, Weihnachten ist gerade vorbei. Bushwick ist nicht schick, Bushwick ist sehr hässlich. Der Plot dreht sich um vier Protagonist_innen, die alle auf bessere Tage hoffen, sich selbst als lebende Kunstwerke begreifen und auch ein bisschen Schneekönigin an sich haben. Oder zumindest Schnee. Tyler Barrett versucht seit Jahren sein Glück als Musiker und hofft darauf, den großen Song zu schreiben. Einen Hochzeitssong für seine eigene Hochzeit, aber er hat nicht viel Zeit. Weil das Songschreiben so eine mühsame Angelegenheit ist, muss Tyler regelmäßig mit einer Prise Schnee, äh Koks, nachhelfen. Tylers große Liebe Beth ist an Krebs erkrankt (daher Tylers Zeitdruck) und wenn es ihr gelingt, sich aus ihrem Sterbezimmer aufzuraffen, wirft sie sich in weiße Kleider, denn Buntes erträgt sie nicht mehr. Tylers Bruder Barrett, Lieblingsroman: Madame Bovary, ansonsten hochbegabter Yale-Absolvent (na ja, fast) und eben auch (fast) echter Literaturwissenschaftler, kriegt einfach nichts auf die Reihe und verkauft deshalb überteuerte Klamotten in einem Second-Hand-Designer-Laden. Das bunte Treiben eröffnet ihm ganz neue literarische Anknüpfungspunkte, die ihn innerlich zum Strahlen bringen: "Es ist das in der Praxis abgeschaffte, aber immer noch dankbare Unheil, das alle Impulskäufer begleitet - die verarmte Matrone, den enterbten jungen Grafen - wenn sie sagen: "Ich werde in diesem kunstvoll verwaschenen Freddy-Mercury-T-Shirt (zweihunderfünfzig Dollar) auf Erden wandeln, auf der Party heute Abend trage ich dieses Vintage-Minikleid von Alexander McQueen (achthundert), weil mir der Augenblick mehr bedeutet als die Zukunft. Die Gegenwart, heute Nachmittag, heute Abend, das Gefühl einen Raum zu betreten und tatsächlich, wenn auch nur kurz, zum Schweigen zu bringen, das ist mir wichtig, es ist schon in Ordnung für mich, nichts zu hinterlassen." Es handelt sich, in Barretts Augen, höchstens um eine harmlose Form des Sadismus, immerhin wirft sich niemand, der den Laden mit Einkäufen verlässt, die er sich eigentlich nicht leisten kann, vor den nächsten Zug. Und so kann er ohne Gewissensbisse (ohne allzu große Gewissensbisse) die Vorstellung genießen, dass Madame Bovary und die Buddenbrooks und das Haus der Freude weiterleben." (106) Nebenbei wartet er auf den richtigen Mann für's Leben, allerdings ist das nicht so einfach. Als ihn mitten in der schneebedeckten Landschaft des Central Parks eine übernatürliche Vision ereilt, glaubt der Ex-Katholik Barrett auf einmal doch wieder an das göttliche Moment und sucht regelmäßig die nahegelegene Kirche auf. Denn irgendeine Bedeutung muss das Licht doch haben. "Vielleicht wird er im hohen Alter einer jener Geschichtenerzähler sein, die das Unmögliche gesehen haben; ein UFO-Zeuge, ein Bigfoot-Zeuge, ein komischer Kauz, der einen flüchtigen, wundersamen Blick auf etwas Unerklärliches erhaschen konnte und sich dann wieder dem Älterwerden zuwandte; der die Subgeschichte der Spinner und Paranoiker fortschreibt, jener Heerschar von alten Säcken, die genau wissen, was sie gesehen haben, auch wenn es Jahrzehnte her ist, und wenn du es nicht glauben willst, du Jungspund, ist das in Ordnung, vielleicht wirst du selbst eines Tages etwas sehen, das du dir nicht erklären kannst, und dann, nun, dann wirst du es wohl endlich begreifen." (S. 57) Das Quartett wird durch Liz komplett, eine alternde Punkdiva und Chefin von Barrett, die von Tylers Drogenkonsum weiß und ihn immer wieder gerne tröstet. Doch davon weiß Beth nichts. In diesem Potpourri aus schweren Schicksalsschlägen und verkrachten Existenzen ereignet sich dann ein Wunder, kurioserweise kurz nachdem Tyler ein Eiskristall ins Auge geflogen ist und Barrett seine Vision hatte. Beth scheint sich wieder zu erholen. Oder sind Tyler und Barrett nur von der Schneekönigin verzaubert worden? In Cunninghams Roman geht es um Wünsche, Hoffnungen und natürlich um Wunder. Die Geschichte beginnt im November 2004 und endet im November 2008 und in dieser Zeit kann für Tyler, der die Vision nicht gesehen hat, und Barrett, der eigentlich gar nicht weiß, was er da genau gesehen hat, alles zum Wunder werden. Beth Genesung, Bushs Niederlage - alles ist gleich wichtig und alles hat irgendwie doch noch Potenzial, zu etwas Gutem zu werden. Könnte man denken... Cunningham erzählt manchmal sehr überzeugend, manchmal gewollt konstruiert, über diese merkwürdigen vier Jahre. Irgendwo zwischen Resignation und Aufbruch, zwischen Drogen und Delirium, zwischen märchenhaften Visionen und der harten Realität von Kokainsucht und Krebserkrankung. Das ist glücklicherweise nicht nur deprimierend, sondern auch sehr unterhaltsam. Weil Cunningham sehr gekonnt zwischen E- und U hin- und herspringt, macht die Nebeneinanderreihung vermeintlicher Gegensätze besonders viel Spaß. Kombinationen aus Shoppingwahn und Buddenbrooks oder einfach Zitate wie "Barrett, du verwechselst dich mit einer Figur aus einem B-Movie - oder wo wir einmal dabei sind, mit einer Figur aus einem Roman von Dostojewski" sorgen dafür, dass der Roman Seite für Seite fast zu einem Meta-Märchen wird, dass sehr viel aktueller, aber auch bissiger ist, als Andersen es je sein wollte. Die Geschehnisse sind zum Teil tragisch, der Text sehr poetisch geschrieben, stellenweise komisch und manchmal auch ein bisschen überladen. Aber das macht nichts. Und am Ende muss ich an die Schneeprinzessin des Empowerments schlechthin (ausgerechnet von Disney) denken. "Let it go" - das Ende ist tragisch und schön gleichzeitig und ob Tyler seine Königin findet, bleibt in der Schwebe und verschwindet unter einer Ladung Schnee. Aber das macht nichts. "Ist es wichtig?", fragt Liz. "Was?" "Ein Omen zu haben. Oder etwas in der Art." "Du musst schon zugeben, dass es interessant ist." "Schätzchen. Ich würde eher sagen, ich muss zugeben, dass es bescheuertes Wunschdenken ist." (S.154)

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