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Rezension zu
Berlin 1936

Scheinwelt

Von: Constanze Matthes
10.07.2016

Der Monat August beginnt. Die Menschen sind in Vorfreude. Die ganze Welt blickt auf die Stadt. Es könnten unbeschwerte und lebendige Olympische Spiele werden, bei denen sich Sportler aus aller Herren Länder im fairen Wettstreit messen können. Doch man schreibt das Jahr 1936, die Stadt trägt den Namen Berlin, die Nationalsozialisten haben seit mehr als drei Jahren das Dritte Reich im festen und unerbittlichen Griff. Der Führer Adolf Hitler und seine oberste Riege wissen, die Spiele für ihre Zwecke zu missbrauchen, eine glanzvolle Scheinwelt zu inszenieren. In seinem Band „Berlin 1936. 16 Tage im August“ entwirft Autor Oliver Hilmes ein lebendiges und facettenreiches Bild dieses sportlichen Großereignisses und der pulsierenden Hauptstadt. Er führt an verschiedene Orte, erzählt von verschiedenen Personen – von sowohl „Normalsterblichen“ als auch prominenten Köpfen. Die meisten der realen Protagonisten verfolgt Hilmes wie an einem roten Faden über längere Zeit: da sind unter anderem der amerikanische Autor Thomas Wolfe und sein deutscher Verleger Ernst Rowohlt, da ist die jüdische Dichterin Mascha Kaléko und Leon Henri Dajou, der Besitzer der Kult-Bar „Quartier Latin“. Manche tauchen indes nur kurz, nahezu schlaglichtartig auf. Viele dieser Schicksale ergreifen und zeigen das wahre Gesicht des Regimes, das unter der inszenierten Scheinwelt nahezu verborgen bleibt. Da werden Sinti und Roma verschleppt und in ein Lager im Stadtteil Marzahn inhaftiert, Homosexuelle, Juden und Andersdenkende verfolgt, die Gesetze systematisch verschärft, die Denunzierung erlebt Hochkonjunktur. Viele dieser grausamen Ereignisse finden im Hintergrund statt, nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit, die von diesem sportlichen wie medialen Ereignis ge- und verblendet wird. Nur wenige schauen hinter die Maske der heuchlerischen Fratze der Nationalsozialisten. Die Medien sind gleichgeschaltet, die Reichspressekonferenz gibt konkrete Anweisungen an die Medien heraus. Das junge Medium Fernsehen erlebt seine Bewährungsprobe. Die Welt staunt ob des Ausmaßes und der schier gigantischen Organisationsmaschinerie. Es sind Massen, die in das Olympia-Stadion strömen, an Aufmärschen teilnehmen. Doch da gibt es noch eine andere Welt abseits des gleichgeschalteten Reiches: die Bars und Kneipen, in denen sich nicht nur Intellektuelle und Promis aller couleur treffen, sondern in denen auch das normale Volk begrüßt wird. Im Club „Nobel“, in der Sherbini-Bar und im Quartier Latin findet sich allabendlich eine illustre Gästeschar ein – zu einem Glas Wein oder Whisky, zur verpönten Swing-Musik bekannter Kapellen. Hilmes gelingt es, mit zahlreichen Fakten aus seiner sehr intensiven Quellen-Recherche zu informieren und zu überraschen sowie unterhaltsam zu erzählen – oft mit einem herrlich augenzwinkernden Humor. Als einen herben, ja düsteren Kontrast lässt er beim Leser ein Gefühl der Beklemmung entstehen angesichts jener Vielzahl an Schicksalen und Menschen, die unter der braunen Diktatur leiden, deren Leben nicht nur auf den Kopf gestellt wird, sondern schlichtweg in großer Gefahr ist. Kleine kurze Andeutungen weisen in die Zukunft der jeweiligen Personen voraus, von denen letztlich in einem abschließenden Abschnitt mit dem Titel „Was wurde aus…“ erzählt wird. Mit oft traurigen Erkenntnissen, wie zum Beispiel zum Schicksal des deutschen Weitspringers Carl Ludwig „Luz“ Long, der mit seinem Konkurrenten, dem mehrfachen Olympiasieger und amerikanischen Leichtathletik-Star Jesse Owens, Freundschaft schließt. Unter dem leuchtenden Spektakel taucht der dunkle Abgrund auf; das beweist nicht nur die hohe Selbstmordrate in jenen Wochen, sondern auch jene „geheimnisvolle Reisegesellschaft“, die sich von Deutschland aus auf den Weg nach Spanien macht. Es sollen nur noch drei Jahre vergehen, bis der große Krieg ausbricht. Der Bürgerkrieg im Süden Europas ist dessen Prolog. In Hilmes‘ unvergleichlich lebendigem Porträt jener 16 Tage im August finden sich nahe sämtliche gesellschaftlichen Bereiche wieder: Sport und Kultur, die Bühne der Diplomatie genauso wie die große Politik. Der Autor, der sich in früheren Werken unter anderem mit den Biografien von Cosima Wagner, Franz Liszt und Bayern-König Ludwig II. beschäftigt hat, stellt sowohl die Nazi-Größen mit ihrem fanatischen Machtstreben und Rassen-Wahn als auch jene Diplomaten westlicher Nationen sowie Vertreter des olympischen Komitees bloß, die anstatt kritisch Stellung zum Rassismus und Antisemitismus im Dritten Reich zu beziehen, vielmehr wegschauen und kuschen. „Berlin 1936“ ist ein bemerkenswerter Band, der, angereichert mit kleinen und großen Geschichten und mit Original-Zeitdokumenten, den Leser über die Lektüre hinaus weiter beschäftigt und kräftig nachhallt.

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