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Rezension zu
Die Eismacher

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Vom Beherrschen der Sprache der Liebe

Von: Bri
14.07.2016

Als ich Kind war, gab es in den Sommermonaten rare Sonntagnachmittage, an denen ich mich stolz neben meinen Vater in den lagoblauen (so hieß das damals tatsächlich) Familien-Opel B Kadett setzte. Ziel der kurzen Fahrt war Rosselli – die Eisdiele mit dem besten italienischen Eis, das ich kannte. Zugegeben, viel Auswahl an echt italienischen Eisdielen gab es damals bei uns nicht, aber Rossellis Eis war tatsächlich ein Gedicht. Zwei, allerhöchstens drei Kugeln gab es pro Nase und meine Aufgabe war es, die kostbare, aus vier mit jeweils einer Waffel bedeckten Bechern bestehenden Fracht auf meinen Knien balancierend sicher nach Hause zu bringen. Rosselli gibt es zwar noch, aber heute habe ich in meinem Heimatort, den ich vor über elf Jahren endgültig verlassen habe, noch einen begnadeten Eismacher gefunden. Von Zeit zu Zeit spiele ich mit dem Gedanken daran, ihn zu bitten, mich in seine Kunst einzuweisen. Denn wenn er endgültig wieder in seine Heimat und damit in Rente geht, gibt es niemanden, der sein Handwerk weiterführen wird. Zumindest keines seiner Kinder. Ich weiß nicht, wie Ernest van der Kwast auf die Idee kam, eine Familiengeschichte über italienische Eismacher zu schreiben, aber während der Lektüre seines neuesten Romans Die Eismacher ploppten die beschriebenen kostbaren Erinnerungen an die Oberfläche meines Gedächtnisses. Fast meinte ich die Textur und den Geschmack des nur bei Rosselli so wunderbar weichen Blaubeereises, das schon durch seine unglaubliche Farbe in der Vitrine heraus stach, auf meiner Zunge zu spüren. Aber eigentlich ist der Roman, den van der Kwast geschrieben hat, nicht nur eine Liebeserklärung an die Kunst des Eismachens, sondern mindestens ebenso sehr eine Huldigung der Literatur, genauer gesagt, der Lyrik. Gedichte spielen hier eine wichtige Rolle, wendet sich der Ich – Erzähler Giovanni doch von der familiären Tradition ab, um sein Leben der Lyrik und deren Verbreitung zu widmen. “ Für Lyrik brauche man mehr Geduld, als für Prosa, sie nehme keine Rücksicht auf das Auffassungsvermögen der Leser; so manches Gedicht lege anscheinend gar keinen Wert drauf, gelesen zu werden. … Es gebe keine Regeln, kein Rezept. Poesie könne überwältigen, rühren, trösten, schwer sein oder gewichtslos. Und noch viel mehr. Unverständlich und doch brilliant.“ Nicht ohne schlechtes Gewissen und nicht ohne Turbulenzen in der Familie – hat doch Giuseppe Talamini, der Urgroßvater Giovannis, angeblich das Eismachen erfunden. So erzählt es zumindest Beppi, der Vater von Luca und Giovanni, gerne immer wieder. Beppi, der sein Leben lang eigentlich nichts anderes sein wollte, als ein Erfinder und der nun, achtzigjährig die meiste Zeit in seiner Werkstatt verbringt, fern der Eisdiele, die er jahrelang in Rotterdam betrieb. Van der Kwast gelingt es wunderbar, die unterschiedlichen Zeiten, die die Eismacher durchleben, in eine dichte, authentische Atmosphäre zu packen. Vermutlich liegt das auch an seiner Liebe zu Lyrik, die dem Roman eine weitere Dimension verleiht. Nicht nur inhaltlich, sondern auch sprachlich. Poetische Bilder sind es, die da vor dem inneren Auge aufsteigen. Leidenschaft ist ihr Kern. Denn im Grund geht es darum, was es heißt, auszuscheren aus einer Familientradition, die eigenen Wünsche zwar zu verwirklichen, aber oft dabei von Gewissensbissen geplagt zu werden. Familienbindungen sind schwer zu lösen, meist ist das schmerzhaft. “ Hauchdünne Fäden zogen an mir – alles war mit allem verbunden, mein Magen mit der vibrierenden Eismaschine, mein Herz mit dem Messer in der Küche, dessen Klinge rot vom Erdbeersaft war, mein Kopf mit dem Haus in Venas, meine Füße mit dem Tannenwald, dem Boden voller Wurzeln.“ Zudem zieht eine Entscheidung gegen den vermeintlich vorgezeichneten Weg doch meist Groll bei den davon betroffenen Familienmitglieder nach sich.So auch bei den Talaminis: Giovanni fühlt sich vor allem in der Welt der Literatur wohl und kehrt dem Eismachen den Rücken. Er spürt in den folgenden Jahren die Enttäuschung der Familie, vor allem die seines Bruders Luca, der lange kein Wort mehr mit ihm sprechen wird. Doch letztendlich ist Blut dicker als Wasser und eine weitere Generation von Eismachern taucht am Horizont auf. “ Das jahrelange Schweigen war bedeutungslos. Es war leer, man konnte es leicht zusammendrücken, bis es gar nichts mehr war. Zwölf Jahre, jedes Jahr eine Schneeflocke, die sich schon aufgelöst hatte, noch bevor sie den Boden berührte.“ Nicht nur meine Kindheitserinnerungen hat van der Kwast mit seinem poetischen, tiefgreifenden Roman hervor gekitzelt. Auch das Wiedererkennen der familiären Fallen, in die man so leicht tappen kann. Erwartungen, die nicht erfüllt werden, Enttäuschungen, die nicht ausgesprochen werden. Doch ist es wirklich wahr, dass man durch eigene Entscheidungen, die der anderen einschränkt? Ich meine nein. Entscheidungen muss jeder für sich selbst treffen, ihre Konsequenzen aushalten können. Und die Erwartungen der Familie entgegen eigener Wünsche zu erfüllen, ist ebenso eine Entscheidung, die nicht andere für einen treffen. Ernest van der Kwast ist mit seinen Eismachern ein Roman gelungen, der aus vielen Schichten einen schillernden Stoff ergibt. Er verwebt sehr gelungen verschiedenste Geschichten miteinander, schafft eine schöne, ruhige Atmosphäre, die wahre Leben repräsentiert. Leben in einer Zeit der Entbehrungen, als der Urgroßvater Talamini im Jahr 1891 mit bloßen Händen Eis erntete und damit später verführerisches Speiseeis machte, später dann ein Leben der Talaminis zwischen der Heimat im Tal der Eismacher mitten in den Dolomiten, in der sie den Winter verbringen und den arbeitsreichen Monaten in den Niederlanden, wo sie ihr Eiscafé betreiben. Im übrigen verbringen die noch schulpflichtigen Kinder der Eismacher – Familien nur die Zeit der Winterpause und die Sommerferien mit ihren Eltern. Was das für die Familienbande heißt, kann man sich durchaus vorstellen. Wer sich von Cover und Klappentext verleiten lässt, ein durchweg komisches Buch zu erwarten – auch das ist der Roman durchaus – der wird allerdings enttäuscht sein. Wie so häufig ist auch hier die Devise: Never judge a book by its cover! Lässt man sich darauf ein, liest man ein sprachlich wunderbar verfasstes, vielschichtiges Werk, das alle Gefühlslagen auslotet und Lust auf mehr macht. Und damit meine ich nicht nur Eis, sondern auch weitere Bücher eines für mich neu entdeckten Lieblingsautors, der mir nebenbei durch seine profunde Kenntnis die Welt der Lyrik wieder näher brachte. „Es ist unmöglich, alles zu erzählen, die vollständige Geschichte. Wir kennen sie nicht. Wir waren nicht bei allem dabei. Wir erzählen einander, was wir wissen. Wir versuchen, Rätsel zu lösen.“

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