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Rezension zu
Libellen im Kopf

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Ein Jahreshighlight für 2017 - Realitätsnah, detailreich, spannend erzählt!

Von: maaraavillosa
21.01.2017

Worum geht es? Das Leben hat seine Höhen und Tiefen. Die Kunst ist es, das eine vom anderen zu unterscheiden. Alles begann, wie es manchmal eben so ist, mit einem toten Mann. Er war ein Nachbar – niemand, den Abby gut kannte, dennoch: Einen Verstorbenen zu finden, wenn man sich nur gerade eine Dose Tomaten fürs Abendessen ausleihen möchte, ist doch ein bisschen schockierend. Oder sollte es jedenfalls sein. Zu ihrem eigenen Erstaunen ist Abby von dem Ereignis zunächst seltsam ungerührt, aber nach diesem Mittwochabend gerät das fragile Gleichgewicht ihres Lebens immer mehr ins Wanken, und Abby scheint nichts dagegen unternehmen zu können … (via randomhouse) Wie hat es mir gefallen? "Das ist kein Scherz. Er war schon tot, als ich reinkam. Er sitzt in seinem Sessel." "Tot?" "Tot." "Wie jetzt - richtig tot"? "Hergott noch mal! Was gibt's denn sonst noch? Fast tot? Ein bisschen tot? Er ist tot! Einfach nur tot! Kalt und steif." Warum vertraute bloß niemand meinem Urteil in dieser Angelegenheit? "Wow, das ist..." Er verstummte, senkte den Blick und runzelte die Stirn. "Ähm." "Was ist?" "Du hast dir trotzdem die Tomaten genommen?" (S. 14f) Kurios, merkwürdig, aber doch witzig zugleich beginnt die Geschichte um Abby. Gavin Extence wirft den Leser hier in eine Situationskomik, die auf den ersten Blick, vor allem aber in Hinblick auf die Grundthematik des Buches, vielleicht gar nicht des Lachens würdig erscheint, und doch kam ich als Leserin nicht umhin, eben genau dies zutun. Abbys Geschichte ist eigentlich alles andere als lustig. Sie leidet an der psychischen Krankheit Bipolare Störung. Ein ständiges Auf und Ab der Gefühle. Mal himmelhochjauchzend gepaart mit Hyperaktivität, Euphorie und Gereiztheit und dann wieder stark depressiv, ganz im Einklang mit tiefer Traurig- und Antriebslosigkeit. Der Leser weiß schon zu Beginn, dass Abby psychisch nicht gänzlich auf der Höhe ist, Aktion und Reaktion ihrerseits wollen nie so wirklich zusammen passen. Mit dem Fund ihres toten Nachbarn kippt jedoch der Schalter und wir begleiten Abby, in manchen Situationen ohnehin schon merkwürdig verhaltend, durchgehend durch eben diese Höhen und Tiefen auf ihrem Weg in die Abwärtsspirale - zu Beginn noch mit ihr lachend, gen Ende hin doch immer ernster und mitfühlend. Als ich mit meiner Lobeshymne auf mich selbst geendet hatte, saß sie einen Moment lang mit steinerndem Gesicht da. Dann sagte sie:" Okay, das ist nun wirklich etwas, das wir unbedingt im Auge behalten sollten." Sex, Drogen und Schlaflosigkeit - dafür brauchten wir drei Augen. Viel mehr Probleme durften es nicht werden, schließlich hatten wir nur vier. (S. 66) Gavin Extence war zu seiner Zeit selbst manisch depressiv, wer könnte so eine Geschichte also besser erzählen? Vielleicht macht auch gerade dieses Detail die Geschichte so besonders, denn auf einen Außenstehenden wirken Abbys Handlungsabsichten in erster Linie erstmal verrückt komisch, die Betroffenden selbst aber fühlen sich meist nur eines: unverstanden - und das wird in Libellen im Kopf wunderbar deutlich. Seine eigenen Erfahrungen konnte Gavin Extence hier geschickt in die Grundstory miteinflechten, ohne dabei unsympathisch belehrend daherzukommen. Die Figur Abby war für mich beim Lesen durchweg wie eine witzige, schlagfertige Freundin, die atemlos ihre nicht weniger spannende Geschichte in allen Details erzählt. Sie findet ihren toten Nachbarn, verstrickt sich in zwei waghalsige Journalismus-Jobs, versucht mit der neuen Frau ihres Vaters klarzukommen, ihre Beziehung mit Beck aufrecht zu erhalten und kann so gar nicht nachvollziehen, wieso sich ihre Therapeutin Dr. Barbara so stringent gegen Drogen ausspricht. All diese Ereignisse könnten für ein ganzes Leben reichen, tatsächlich aber erstreckt sich die Handlung bis zum mental breakdown über nur wenige Tage. So atemlos und spannend Abby erzählt, so Atem anhaltend und gespannt folgt ihr der Leser. Durch den flotten, saloppen und dennoch bildhaften Schreibstil ist vor allem dies überhaupt gar kein Problem. Man könnte meinen, einen Thriller vorliegen zu haben, so ist es bei all den Fakten aber nicht. Es ist eher ein bisschen so, als würde man selbst Achterbahn fahren, alles geht wahnsinnig schnell, der Kopf wird ordentlich geschüttelt und dann bleibt die Zeit bis zum großen Sturz nach unten stehen. Das ist ein urmenschliches Problem, mit dem sich kein anderes Lebewesen herumschlagen muss: die Fähigkeit, in mehreren Zeiten gleichzeitig zu leiden - die Vergangenheit zu beklagen, an der Gegenwart zu verweifeln und die Zukunft zu fürchten. Wenn es die Ärzte gut mit mir meinten, würden sie mir eine Lobotomie verpassen. Aber das war mir nicht vergönnt; ich war zur falschen Zeit geboren. (S. 202f) Das Erzähltempo wechselt, die Achterbahnfahrt ist vorbei. Abby wird eingewiesen und muss sich einen harten Weg erkämpfen, um wieder Gesundheit zu erlangen. Die Besteigung des Mount Everest beschreibt es nichtmal in Ansätzen. Ich zuckte mit den Schultern. "Sie suchen ständig nach Schubladen für uns." Wir rauchten den Rest unserer Zigaretten ohne viele Worte. Es gab ja auch nichts weiter zu sagen. (S. 221) Gerade in der zweiten Hälfte des Buches wird deutlich, wie stark Abbys Symptome eigentlich schon ausgeprägt waren. Gleichzeitig greift Extence eine Vielzahl von Vorurteilen in Bezug auf manisch Depressive auf, macht aber auch deutlich, wie hilflos Abbys Umfeld eigentlich ist, denn dieses verknotete Wollknäuel ist weder von außen noch von innen leicht zu entknoten. Vor allem Beck, Abbys Freund, hadert sehr mit sich und stellt die Beziehung zu Abby mal weniger, mal mehr infrage - an Sympathie büßt aber auch er an keiner Stelle ein. Auch wenn die klinischen Kapitel mit weniger Antrieb daherkommen, verfolgt man weiterhin gespannt Abbys Rückkehr ins Leben und denkt nach Beenden des Buches und auch noch eine ganze Weile später über die Thematik nach. Mir hatte ja bereits Das unerhörte Leben des Alex Woods oder warum das Universum keinen Plan hat sehr gut gefallen, weil es mit gesellschaftliche Konventionen bricht. So waren meine Erwartungen an das zweite Buch aus Gavin Extence' Feder nicht gerade tiefgesetzt. Aber auch mit Libellen im Kopf konnte der Autor mich von seinem Talent, fiktionale Geschichten realistisch, detailgetreu und spannend zu erzählen, überzeugen - sein Nachwort hat mich zudem sehr berührt. Libellen im Kopf ist für mich ein Jahreshighlight im Jahr 2017 und jedes Lesen wert!

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