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Rezension zu
Die Straße der Ölsardinen

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Steinbeck rediscovered

Von: Niamh O'Connor
08.10.2017

Meine erste Begegnung mit John Steinbeck hatte ich im Gymnasium, und ich konnte wenig mit seinen Büchern anfangen. Pathetische Geschichten über einfache Menschen, zu ereignislos und deprimierend für meinen Geschmack, einfach stinklangweilig. Erst als ich viele Jahre später eher zufällig Verfilmungen von Cannery Row und Of Mice and Men sah, dämmerte mir, dass mir da etwas entgangen sein könnte, und ich beschloss, dem Autor und mir noch eine Chance zu geben. Es war eine gute Entscheidung. Cannery Row – Die Straße der Ölsardinen, erschienen 1945, erzählt vom Leben in der kalifornischen Küstenstadt Monterey während der Wirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit. Das Leben der Cannery Row wird tagsüber von den Fischkonservenfabriken dominiert, denen sie ihren Namen verdankt. Wenn aber alle Fische verarbeitet und die Fabriksarbeiter nachhause gegangen sind, gehört die Straße wieder den Menschen, die an ihr leben: Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler. Man könnte sie aber auch Heilige, Engel, Gläubige, Märtyrer nennen, es kommt nur auf den Standpunkt an. Da ist zunächst Doc, der Inhaber und Betreiber des Western Biological Laboratory. Für seine Nachbarn ist er eine Quelle der Philosophie, Wissenschaft und Kunst, und wenn sie Hilfe brauchen, dann hat er immer Verständnis, Zeit und und die richtige Medizin. Der zuvorkommende Lee Chong besitzt einen Gemischtwarenladen, dessen wirtschaftlicher Erfolg auf seiner Gabe beruht, sowohl die Bedürfnisse als auch die finanziellen Möglichkeiten seiner Kunden sehr gut einschätzen zu können. Dora Flood führt ihr Etablissement, in dem 12 Mädchen unterschiedlichster Altersstufen auf Kundschaft warten, mit mehr Sinn für Sitte und Moral, als so mancher Kirchenmann aufbringen würde. Und dann sind da noch Mack und seine Jungs, allesamt im erwerbsfähigen Alter, Bewohner des Palace Hotel, eines Hauses, das ihnen Lee Chong zu einem sehr günstigen Mietpreis überlassen hat, weil nur sie es vor Vandalismus und Brandstiftern schützen können. Sie verstehen es, harte Arbeit durch Einfallsreichtum zu ersetzen, und sie liefern mit ihren Bemühungen, für Doc eine Party auszurichten, um sich bei ihm dafür zu bedanken, dass er immer allen anderen eine Freude macht, den Bogen, der sich über die von Steinbeck beschriebenen Schicksale und Ereignisse spannt. John Steinbeck wurde in Salinas, Kalifornien geboren und wohnte selbst einige Zeit in Monterey. Für die Figur des Doc gab es ein reales Vorbild, den Meeresbiologen und Philosophen Ed Ricketts, mit dem Steinbeck befreundet war und dem er den Roman auch widmete. Ricketts taucht gemeinsam mit der Cannery Row in dem 1954 erschienen Roman Sweet Thursday (Wonniger Donnerstag) wieder auf. Nach dem Erscheinen der Romane wurde Monterey zum Anziehungspunkt für Literaturliebhaber, die die Originalschauplätze sehen wollten, und die Küstenstraße, an der diese lagen, wurde schließlich von Ocean View Avenue auf Cannery Row umbenannt. Ed Ricketts‘ Pacific Biological Laboratories existieren noch heute so, wie sie in Kapitel 5 beschrieben sind, und ihnen gegenüber liegt das Geschäft, das Vorbild für Lee Chongs Kramladen war. In einem kurzen einleitenden Text beschreibt Steinbeck unter anderem, wie die realen Ereignisse und Personen in den Roman Eingang gefunden haben: Wie soll man es in seiner Lebendigkeit einfangen, dies Gedicht, dies Getön und Geleuchte, dies schlurfende, scharrende Traumgetriebe? Es gibt Seegetier von so heikler Beschaffenheit, dass es einem unter den Händen zerbricht oder zerrinnt, wenn man es fangen will. Man muss ihm Zeit lassen, bis es von selbst auf eine Klinge kriecht, die man ihm hinschiebt, und es dann behutsam aufheben und in einen Behälter mit Meerwasser gleiten lassen. Auf ähnliche Art muss ich wohl dieses Buch schreiben: die Blätter hinlegen und es den Geschichten überlassen, darüber hinzukriechen. Im englischen Original liest sich das so: How can the poem and the stink and the grating noise – the quality of light, the tone, the habit and the dream – be set down alive? When you collect marine animals there are certain flat worms so delicate that they are almost impossible to capture whole, for they break and tatter under the touch. You must let them ooze and crawl of their own will on to a knife blade and then lift them gently into your bottle of sea water. And perhaps that might be the way to write this book – to open the page and to let the stories crawl in by themselves. Die deutsche Übersetzung des Romans stammt von Rudolf Frank, und beim Vergleich mit dem Originaltext blieb mir an vielen Stellen der Mund offen: Der Übersetzer hat sich nicht damit begnügt, Steinbecks Worte ins Deutsche zu übertragen, es ist ihm gelungen, eine Sprache zu finden, die die Stimmung und den Sprachrhythmus des Originals einfängt und im Deutschen so wiedergibt, dass es Steinbecks Ausdruckskraft in nichts nachsteht. Das geht bis ins letzte Detail, wo Namen nicht einfach übernommen, sondern sorgsam nachempfunden werden. So wird zum Beispiel aus dem von Mack und den Jungs bewohnten Palace Flophouse Grill im Deutschen das Palace Hotel. Und die schon zitierten Huren, Hurensöhne, Kuppler, Stromer und Spieler sind im Original whores, pimps, gamblers and sons of bitches. Literary translation at its best! Wiederentdeckt habe ich das Buch in einer Hörbuchversion, gelesen von Ulrich Matthes. Er erweckt die Cannery Row zum Leben, indem er für jede Situation den richtigen Ton und für jede Figur die richtige Tonlage findet. Den Humor, den Steinbeck bei der Schilderung gar nicht lustiger Szenen mitschwingen lässt, bringt Matthes so zum Ausdruck, dass die Erzählungen „nicht zum Lachen, aber sehr lustig“ sind, wie das mein 13-jähriger Mithörer treffend formuliert hat. So wird aus den pathetisch langweiligen Geschichten meiner Schulzeit ein tolles Hörerlebnis.

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