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Banner Virginia Baily: »Im ersten Licht des Morgens«, Roman, Diana Verlag

Virginia Baily im Interview zu ihrem Roman »Im ersten Licht des Morgens«

»In meinem Roman geht es darum, dass man sich seine Familie nicht aussuchen kann, seine Freunde allerdings sehr wohl«

Über den Roman:
Chiara Ravello führt nach außen ein erfülltes Leben. Sie arbeitet als Übersetzerin in Rom und umgibt sich mit Freunden, gutem Essen, Theater und Musik. Nur wenige Gegenstände in ihrer Wohnung erinnern an Daniele, den sie aufzog und liebte wie ihren eigenen Sohn. Kaum jemand weiß von dem Schmerz, den sein Verlust für sie bedeutet. Erst als eine junge Frau aus Wales in Rom auftaucht und behauptet, Danieles Tochter zu sein, beginnt Chiaras Fassade zu bröckeln. Marias Ankunft führt Chiara weit zurück in ihre Vergangenheit, ins Kriegsjahr 1943, und weckt in ihr eine lang vergrabene Sehnsucht nach Versöhnung.

Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Roman gekommen?

Virginia Baily: Die Idee für das Ereignis, das alles ins Rollen bringt – die Frau, die ein jüdisches Kind als ihr eigenes ausgibt –, stammt aus einem Buch namens Am 16. Oktober 1943, welches ich vor Jahren gelesen habe. Der jüdische Autor Giacomo Debenedetti schildert darin, was sich an diesem Tag in Rom abgespielt hat. Unter anderem auch, wie eine Frau versucht, ein Kind zu retten, indem sie behauptet, es gehöre zu ihr. Das Kind aber schreit nach seiner wirklichen Mutter und wird ihr wieder ausgehändigt, ist somit verloren. Da habe ich mich gefragt: Was, wenn das Kind nicht schreit oder zumindest nicht laut genug? Oder wenn die Frau so energisch auftritt, dass seine Schreie übertönt werden? Was, wenn es gelingt, das Kind zum Schweigen zu bringen? Das Buch ist ein Versuch, diese Frage zu beantworten.

Was macht Rom als Schauplatz für Sie so reizvoll?

Virginia Baily: Mit sechzehn war ich das erste Mal in Rom bei meiner dort lebenden Tante. Ich habe mich sofort in die Stadt verliebt – in die Sprache, das Licht, das Essen, die Leute, die Häuser, die Atmosphäre, aber auch in die Person, zu der ich dort geworden bin. Seitdem bin ich unzählige Male wieder hingefahren und bin jedes Mal wieder fasziniert. Zweimal habe ich länger in Rom gelebt, zuletzt mehrere Monate, als ich Im ersten Licht des Morgens geschrieben habe. Schreiben ist auch eine Art zu reisen, und zwar in Raum und Zeit. Indem ich die Handlung in Rom angesiedelt habe, konnte ich in meiner Fantasie täglich dorthin reisen, auch wenn ich bloß in meinem Büro in Devon saß.
Für Italien zur Zeit des Zweiten Weltkriegs interessiere ich mich schon, seit ich mich als Studentin mit dem neorealistischen Film beschäftigt habe – Roberto Rossellinis Rom, offene Stadt hat mich besonders beeindruckt –, aber auch mit der Literatur von etwa Alberto Moravia, Natalia Ginzburg und Elsa Morante. Das Studium war eine prägende Zeit für mich, und die Bilder und Themen dieser Werke sind mir im Gedächtnis geblieben und haben mir dabei geholfen, die 1940er Jahre in dem Roman heraufzubeschwören. Meine eigenen Erfahrungen sind wiederum in die von Maria, meiner jungen britischen Romanheldin, eingeflossen.
Ich habe eine sehr innige Beziehung zu Rom. Sie ist nicht mehr so leidenschaftlich drängend wie früher, aber sie besteht bis heute. Dieser Roman hat mir die Möglichkeit gegeben, ein Rom heraufzubeschwören, das alles enthält, was ich liebe. Dass ich so andere daran teilhaben lassen kann, ist mir eine große Freude.

Obwohl Maria auf den Spuren ihres Vaters nach Rom reist, geht es in diesem Buch eher um die Mütter als um die Väter. Was reizt Sie so an der Beziehungsdynamik zwischen Müttern und Kindern?

Virginia Baily: Das ist eine interessante Frage, denn obwohl Mutterschaft ein zentrales Thema in diesem Roman ist, finde ich Vaterschaft genauso wichtig. Chiara beispielsweise hat eine sehr schwierige Beziehung zu ihrer Mutter, vergöttert aber ihren Vater und tröstet sich mit der Gewissheit, von ihm geliebt worden zu sein. Maria geht es bei ihrer Reise zwar hauptsächlich darum, zu sich selbst zu finden, die Mutter zu bestrafen und ihren Vater zu suchen. Aber ob es ihr nun gefällt oder nicht, ist sie doch sehr gerührt von der Zärtlichkeit des Mannes, der sie großgezogen hat wie ein eigenes Kind.
Mütter hingegen sind die Entscheider, die Aktiven, die alles ins Rollen bringen. Wir dürfen zwar einen kurzen Blick auf die Ladefläche des Lasters und Danieles Vater werfen, aber nicht er trifft die Entscheidung, eines seiner Kinder einer Wildfremden anzuvertrauen. Es ist die Dynamik zwischen Daniele und seiner Mutter, die im Zentrum des Buches steht. Als Mutter von zwei Söhnen finde ich faszinierend, was Mutterliebe alles vermag. Wie weit kann sie gehen? Hat sie auch Grenzen und wenn ja, welche? Was Danieles Mutter da tut, ist für mich das Äußerste, was man tun kann.

Daniele ist sehr präsent in dem Roman, trotzdem erfährt der Leser nie etwas aus seiner Perspektive. Was hat Sie dazu bewogen, eine so zentrale Figur indirekt zu porträtieren?

Virginia Baily: Daniele ist letztlich unergründlich. Alles, was ihm vertraut ist, wird ihm genommen. Mit gerade mal sieben Jahren verliert er seine Familie, kommt zu einer Fremden und damit in ein für ihn völlig unbekanntes Leben. Er steht ohne alles da und ist das heimliche Zentrum des Romans, eine Art schwarzes Loch, das alle Energie, alles, was er von anderen bekommt, einfach verschluckt. An einer Stelle schaut Chiara ihn an und denkt, dass sie nie wissen wird, was in ihm vorgeht, und bis zu einem gewissen Grad geht es mir genauso.

Chiara und Simone sind nicht miteinander verwandt, scheinen aber die stabilste Familie zu bilden. Wie würden Sie die unkonventionelle Beziehung zwischen diesen Frauen beschreiben?

Virginia Baily: Ich interessiere mich sehr für das Konzept Familie, dafür, wie Familienbande geknüpft werden, und bin fasziniert von der Idee der schicksalhaften Begegnung. In Im ersten Licht des Morgens geht es darum, dass man sich seine Familie nicht aussuchen kann, seine Freunde allerdings sehr wohl. Zur innigen, lang anhaltenden Freundschaft zwischen Chiara und Simone, der früheren Geliebten ihres Vaters, kommt es auch deswegen, weil sie im besetzten Rom der Jahre 1943/1944 beide ums Überleben kämpfen. Übliche Hindernisse wie Eifersucht oder Schicklichkeit spielen in einer solchen Ausnahmesituation keine Rolle mehr. Wenn Krieg, Angst und Hunger das Leben beherrschen, fallen derart kleinliche Bedenken einfach weg angesichts der Erkenntnis, dass wir alle winzig klein sind und direkt am Abgrund. Deshalb können wir uns genauso gut beistehen.

Was ist Simones Rolle in dem Roman?

Virginia Baily: Meine Figuren kommen auf zweierlei Art zu mir: Entweder ich erhasche einen eher flüchtigen Blick auf sie, sodass ich sie nach diesem Bild mühsam zusammensetzen muss. Oder aber sie stehen schon fertig vor mir, und ich frage sie: »Wo seid ihr bloß auf einmal hergekommen?« Ersteres ist ein Schaffensprozess, Letzteres eher ein Entdeckungsprozess.
Simone fällt in letztere Kategorie. Sie stand einfach irgendwann in all ihrer Pracht vor mir. Von Anfang an war sie überlebensgroß, eine schillernde, warmherzige, extravagant gekleidete Person voller Menschlichkeit, die fest entschlossen war, das Leben nach ihren Vorstellungen zu leben. Sie hat bestimmte Eigenschaften, die für Chiara äußerst wichtig, ja ihr eine große Hilfe sind. Simone kann andere einfach so nehmen, wie sie sind, sie um ihrer selbst willen lieben und verströmt eine unglaubliche Wärme, Zuverlässigkeit und Weisheit. Sie bringt Chiara dazu, auf ihre innere Stimme zu hören, und ist nachsichtiger mit ihrer Freundin als mit sich selbst. Sie hält ihr einen Spiegel vor, aber so, dass er sie in einem freundlichen, positiven Licht zeigt – etwas, das Chiara von sich aus nie fertigbrächte. Ich glaube, jeder von uns könnte eine Simone gebrauchen.


© Diana Verlag 2016

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