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Rezension zu
HERKUNFT

Herkunft,Heimatland

Von: LiteraturReich
16.07.2019

Herkunft – das ist eins dieser ideologiebesetzten Wörter, das die einen dazu missbrauchen, um abzugrenzen, um zu deklassieren, während die anderen es maximal zur Bestimmung der Güte von Wein oder Fleischwaren benutzen mögen. Was kann Herkunft noch bedeuten in unserer globalisierten, multikulturellen Welt? Wie kann man es schützen vor plattem Nationalismus? Dass auch der Autor Saša Stanišić ein Weltbürger ist, davon kann man ausgehen. Er lebt in Hamburg, sein Werk ist in 30 Sprachen übersetzt worden. Geboren wurde er aber 1978 im bosnischen Višegrad an der Drina, das durch Ivo Andrićs Roman „Die Brücke an der Drina“ zunächst weltliterarische und dann während des Jugoslawienkriegs 1992 durch die von serbischen Einheiten durchgeführten „ethnischen Säuberungen“ bekannt wurde. Saša Stanišić ist der Sohn eines Serben und einer Bosniakin, beide alles andere als religiös. Wie der Autor so schön schreibt, „Ich dachte eine Zeit lang, ohne Witz, Moslem sei man, weil man Schweinefleisch nicht aß – einfach also jemand mit einer speziellen Diät." Die ethnischen Verfolgungen als Folge des Zerfalls des Vielvölkerstaats Jugoslawien gaben ihm diesbezüglich Nachhilfe und zwangen ihn und seine Mutter zu einer überstürzten Flucht nach Deutschland, der Vater folgte wenig später. Sie landeten zunächst in einem Auffanglager in der Nähe von Heidelberg, wo sie dann mit den Großeltern bei einer dort lebenden Tante unterkamen. Saša war damals 14. Familie interessierte ihn ähnlich stark wie die meisten Teenager, seine Herkunft war ihm meistenteils peinlich, denn sie machte ihn zu einer Besonderheit, etwas, was Teenager wenig schätzen. Und so gab sich Saša schon einmal als einen die Alpen vermissenden Slowaken aus, um die Opferrolle, die vielen verfolgten Bosniern zuteilwurde, zu vermeiden. Wichtiger war ihm die aus jungen Männer unterschiedlicher Nationen bestehende Clique, die sich an der ARAL-Tankstelle in Heidelberg-Emmertsgrund traf, waren Mädchen und, leider nicht ganz typisch für junge Männer, die Literatur. Besonders seine Liebe zu einem der „deutschesten“ Dichter überhaupt, Joseph Eichendorff, bekundet er im Buch mehrmals. Herkunft ist als autobiografische Selbstbefragung immer auch eine Versicherung darüber, Glück gehabt zu haben. Glück und Chancen, durch die Literatur oder durch den Deutschlehrer, der ihn zum Schreiben von Gedichten auf Deutsch ermuntert hat, oder durch den engagierten Sachbearbeiter in der Ausländerbehörde, der seine Abschiebung aussetzte und ihm dadurch ein Studium in Heidelberg ermöglichte. Weniger Glück hatten seine Eltern, die nach jahrelanger unterqualifizierter Arbeit in einer Großwäscherei (Mutter) und auf dem Bau (Vater) 1998 der bevorstehenden Abschiebung durch Auswanderung in die USA zuvorkamen. Und so ist Saša Stanišić Familie über viele Länder verstreut, seine Eltern leben mittlerweile in Kroatien, die Großmutter ist 2018 in einem Altenheim im bosnischen Rogatica verstorben. Ihre seit Jahren zunehmende Demenz war (zumindest ein) Anlass für das vorliegende Buch. Ihr verlöschendes Gedächtnis Antrieb für die Erinnerungsarbeit, die der Enkel mit „Herkunft“ leistet. Das Buch besitzt bewusst keine Genrebezeichnung. Saša Stanišić ist einer der großen Sprachvirtuosen Deutschlands. So genau und gleichzeitig verspielt geht kaum ein Autor mit der deutschen Sprache um, vielleicht gerade weil sie ihm keine Muttersprache ist. Genauso spielerisch baut er seinen Text auf. Er verflicht verschiedene Zeitebenen und Stilarten mühelos und virtuos. Da ist der Autor, der sich 2018 Sorgen um den Gesundheitszustand seiner Großmutter in Bosnien macht, bereut, in früheren Zeiten sie nicht mehr gefragt zu haben, der sich an Vergangenes erinnert, auf einmal so etwas wie Herkunft spürt, auch wenn er weiß: „Jedes Zuhause ist ein zufälliges: Dort wirst du geboren, hierhin vertrieben, da drüben vermachst du deine Niere der Wissenschaft. Glück hat, wer den Zufall beeinflussen kann. Wer sein Zuhause nicht verlässt, weil er muss, sondern weil er will.“ Mit der ihm eigenen klugen Klarsicht und dem humorvoll-ironischen Blick will er schon 2008 anlässlich der Erlangung der deutschen Staatsbürgerschaft an die Ausländerbehörde geschrieben haben: „“Ich bin Jugo und habe in Deutschland trotzdem nie was geklaut, außer ein paar Bücher auf der Frankfurter Buchmesse. Und in Heidelberg bin ich mal mit einem Kanu in einem Freibad gefahren.“ Radierte beides aus, weil vielleicht Straftaten und nicht verjährt.“ Welche Anekdote man glaubt, ist der Leser*in überlassen. Nicht immer ist der Autor da so transparent wie bei der Abschiedsszene mit seiner Großmutter bei seinem letzten Besuch. „Es stört mich, dass sie das nicht sagt. Es stört mich, dass ich mir das für sie ausdenke. In Wirklichkeit sitzt sie weiter reglos da, als habe der eine Schluck Kaffee sie Kraft gekostet.“ Worüber sich der Autor 2018 auch Gedanken macht und was sicher auch seine Spuren im Buch hinterlassen hat, sind die neuesten nationalistischen Tendenzen in Deutschland und Europa. „Heute ist der 29. August 2018. In den letzten Tagen haben tausende in Chemnitz gegen die offene Gesellschaft in Deutschland demonstriert. Migranten wurden angefeindet, der Hitler-Gruß hing über der Gegenwart.“ schreibt er etwa. Für ihn ist es eine „Zeit, in der Abstammung und Geburtsort wieder als Unterscheidungsmerkmal dienen.“ Die zweite Zeitebene, in der sich der Text bewegt, ist das Jahr 2009, in dem Saša Stanišić seine Großmutter in Bosnien besucht und sie ihn zum ersten Mal mit nach Oskoruša mitnimmt, jenem Bergdorf aus dem die Großeltern stammen und in dem der Heilige Georg, der Drachentöter, oder, so vermutet Saša Stanišić, eher die Drachen verehrt werden. 2009 leben nur noch 13 Einwohner dort, aber auf dem Friedhof reiht sich ein Grabstein mit der Inschrift Stanišić an den nächsten. Ein Ort, an dem der Autor zum ersten Mal vielleicht etwas wie Herkunft verspürt. Ein alter Verwandter sagt es rigoros. "Von hier. Du kommst von hier." Eine weitere Zeitebene ist die Zeit um 1992. Der Jugoslawienkrieg bricht aus, die schrecklichen Ereignisse nach Zerfall des Vielvölkerstaats, als urplötzlich wieder Nationalismen ins Kraut schossen, und das mit einer ungeheuren Brutalität, sind für den Autor nach wie vor unfassbar. „Der Sozialismus war müde, der Nationalismus wach.“ Nicht nur wenn man Sozialismus durch Demokratie ersetzt, kann dieses lapidare Statement zur Mahnung werden. Plötzlich kursieren in der Klasse Sašas Listen, in die sich die Schüler unter den Rubriken Serbe, Bosnier, Kroate eintragen sollen. Zögerlich beginnen die ersten, dann taucht eine neue Rubrik auf: „Weiß nicht“ und bald danach die Rubrik „Fickt euch“. Leider ist nicht jeder der ehemaligen Jugoslawen so mit dem Thema Ethnien umgegangen. Familie Stanišić muss fliehen. Viel Raum widmet der Autor seinem Ankommen in Deutschland, seiner Teenagerzeit, seinen Mitschülern in der „Willkommensklasse“ etwa, von denen einer das Problem mit der Herkunft löst, indem er in die Rubrik „geboren“ einfach „ja“ einträgt. Für Saša Stanišić gilt: „Fragt mich jemand, was Heimat für mich bedeutet, erzähle ich von Dr. Heimat, dem Vater meiner ersten Amalgam-Füllung.“ Dieser menschenfreundliche Zahnarzt war für die Familie Stanišić ein erster wirklicher Willkommensgruß. „Fragt mich jemand, was mir Heimat bedeutet, erzähle ich vom freundlichen Grüßen eines Nachbarn über die Straße hinweg. Ich erzähle, wie Dr. Heimat meinen Großvater und mich zum Angeln an den Neckar eingeladen hat. Wie er Angelscheine für uns besorgt hat, wie er Brote geschmiert und sowohl Saft als auch Bier dabeihatte, weil man ja nie weiß. Wie wir Stunden nebeneinander am Neckar standen, ein Zahnarzt aus Schlesien, ein alter Bremser aus Jugoslawien und ein fünfzehnjähriger Schüler ohne Karies, und wie wir alle drei ein paar Stunden lang vor nichts auf der Welt Angst hatten.“ Immer wieder gehen die Erinnerungen natürlich auch noch weiter zurück, in die Kindheit, die Jugend der Eltern. Saša Stanišić ist ein Sprachspieler und sein Umgang mit der deutschen Sprache einfach wunderbar. Seine Geschichten sind stets von einer enormen Menschenfreundlichkeit getragen. Und wenn auch in „Herkunft“ etwas weniger Witz und Ironie durchschimmert als in vergangenen Büchern, ist es dennoch äußerst vergnüglich zu lesen, wie er die Zeiten und Geschichten durcheinanderwirbelt, von poetischen Episoden zu fantastischen Erfindungen, zu geschichtlich-politischen Betrachtungen und zu autobiografischen Erinnerungen springt. Am Ende denkt er sich etwas ganz besonderes aus. Es ist die Zeit im Spätherbst 2018, in der seine Großmutter bereits gestorben war, er aber noch über an diesem Buch schrieb. Als früher Fan von „Choose your adventure“ Büchern - der eine oder andere kennt vielleicht noch die „Schwarzes Auge“-Reihe - gibt er den Lesern nun die Möglichkeit, aus verschiedenen Handlungsmöglichkeiten eine auszuwählen und dem Verlauf der Geschichte dementsprechend zu folgen. Zehn verschiedene, mehr oder weniger kurze, mehr oder weniger fantastische Geschichten und Enden stehen zur Verfügung. Aber nur eines davon ist real – der Tod der geliebten Großmutter. Der Saša Stanišić neben vielen anderen hier im Buch „Herkunft“ ein wunderbares, berührendes Denkmal gesetzt hat. Unbedingt lesen!

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