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Rezension zu
Lincoln im Bardo

Auch Geister haben Gefühle

Von: Renie
14.09.2018

Meine übliche Herangehensweise an ein Buch besteht darin, mich grob über den Inhalt zu informieren. Dabei lasse ich Klappentexte, Rezensionen etc. außen vor. Ich möchte mich nicht vorab beeinflussen lassen. Allerdings war mein erster Gedanke, als ich den Roman "Lincoln im Bardo" von George Saunders das allererste Mal aufgeschlagen habe: "Ach, du Schande! Hättest du dich mal vorher schlau gemacht. Da hast du dich wohl von dem Prädikat "Man Booker Prize 2017" blenden lassen." Nach den ersten Seiten habe ich dieses Buch gehasst, ein paar Seiten später wollte ich es nicht mehr aus der Hand legen. Und am Ende war ich süchtig danach und habe es in Rekordzeit gelesen. Der erste Eindruck deutet darauf hin, dass dieser Roman eine Aneinanderreihung von Gesprächsfetzen ist. Das ist gewöhnungsbedürftig und nicht leicht zu lesen, zumal diese Gesprächsfetzen von einer Vielzahl unterschiedlicher Personen kommen (irgendwo habe ich die Zahl 160 gelesen), die sich gerade am Anfang weder zuordnen noch auseinanderhalten lassen. Hinzu kommen Auszüge aus Texten von fiktiven und realen Chronisten aus der Zeit von Abraham Lincoln (1809 - 1865). Auf den ersten Blick ist das Buch ein großes chaotisches Durcheinander. Es gibt nur selten Fließtext, bestenfalls erinnert die Textform an ein Drehbuch oder ein Theaterstück. Erstaunlich, dass sich beim Lesen ein Sog entwickelt hat, der mich geschmeidig durch die Handlung gleiten ließ. Und darum geht es in diesem Buch: Nachdem Willie, der 11-jährige Sohn von Abraham Lincoln (16. Präsident der USA), gestorben ist, findet er sich auf dem Friedhof wieder. Sein Zustand scheint eine Übergangsstation zwischen dem Leben und dem, was danach kommt, zu sein ( = Bardo: ein Begriff aus dem tibetischen Buddismus, der einen Bewusstseinszustand zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bezeichnet - ganz grob erklärt). Hier trifft er auf unzählige Gestalten, die hier ebenfalls wandeln, die Einen bereits seit Jahren, die Anderen erst seit Kurzem. Alle habe eines gemein: sie sehen sich nicht als "tot" an. Stattdessen sind sie in einer Warteposition, um wieder in ihr altes Leben zurückzukehren oder auf, ihnen nahestehende Menschen zu warten, die ebenfalls irgendwann das Zeitliche segnen werden. Willie unterscheidet sich von den anderen Gestalten. Er ist jung, und er erhält Besuch von seinem Vater. In der Nacht nach der Beerdigung seines Sohnes, kommt Lincoln nochmal allein zur Gruft, in der sein Sohn begraben ist. Voller Trauer und Verzweiflung will er Abschied nehmen. Und das, was anschließend in dieser Nacht geschieht, lässt sich nicht mit Vernunft und gesundem Menschenverstand erklären. Nur soviel: auch Geister haben Gefühle. Abraham Lincoln erleidet diesen tragischen Verlust zu einer Zeit, in der sein Land zweigeteilt ist und einen Bürgerkrieg führt. Er wird in seiner Rolle als Präsident 100%ig gefordert. Doch hier zeichnet sich ein nahezu unlösbarer Konflikt zwischen trauerndem Vater und Staatsoberhaupt ab. Die politische Lage lässt dem Privatmenschen nicht viel Freiraum. Und doch nimmt er sich die Freiheit zu trauern, wenn auch nur für einen kurzen Moment. Gleichzeitig wird ihm bewusst, welche Auswirkungen der Krieg auf die Bürger seines Landes hat. Mit jedem gefallenen Soldaten gibt es Menschen, welche dieselbe schmerzhafte Trauer erdulden müssen, wie er selbst, durch den Verlust seines Sohnes. Eine Besonderheit dieses Romanes sind die Charaktere, i. d. R. sind dies Tote im Bardo. Sie bilden einen Querschnitt der damaligen (oder auch heutigen?) amerikanischen Gesellschaft. Es sind Arme und Reiche, Weiße und Farbige, Ehrenwerte und Kriminelle, Männer und Frauen, Erwachsene und Kinder, Moralische und Unmoralische... Und jeder hat eine Geschichte zu erzählen - die Geschichte der letzten Jahre seines Lebens sowie die Umstände des persönlichen Ablebens. Dabei kommen Geschichten zu Tage, die traurig sind, skurril, lustig, abstoßend, Mitleid erregend. Die Geschichten beinhalten sehr viel schwarzen Humor. Doch bei aller Skurrilität, die George Saunders seinen Charakteren angedichtet hat, hat man stets den Eindruck, dass er ihnen sehr viel Sympathie und Verständnis entgegenbringt. Er stellt Fehler in den Vordergrund, welche Menschen menschlich machen. Fazit: Ich habe bisher noch nichts Vergleichbares gelesen. George Saunders hat mit "Lincoln im Bardo" eine bizarre Geschichte entworfen. Gesunder Menschenverstand ist hier fehl am Platze. Stattdessen lässt man sich als Leser auf ein eigentlich gruseliges Kammerspiel ein, das die Vorlage für einen Horrorfilm liefern könnte. Belohnt wird man dafür mit einer beeindruckenden Geschichte über einen Vater und seinen Sohn, über einen Staatsmann und seinen Krieg, über Liebe, Verlust, Trauer und Mitgefühl. Eine Geschichte, die unter die Haut geht, die lustig ist, die spannend ist, die schräg ist, die nachdenklich stimmt, und die ich uneingeschränkt empfehlen kann. © Renie

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