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Rezension zu
Mittagsstunde

Alltagskunst

Von: daslesendesatzzeichen
13.06.2019

Die Kunst, den Alltag treffend zu beschreiben, und die Leserschaft dennoch bei Laune zu halten, beherrschen nur wenige Autoren. Oft werden lieber ganz besondere Momente im Leben der Protagonisten ins Zentrum des Buches gerückt oder dramatische Ereignisse thematisiert. Das Alltagsleben, das Banale, Normale, das ja oft langweilig sein mag, aber manchmal gerade in seiner Monotonie fast schon wieder skurril-spannend sein kann, zu skizzieren, vermag nicht jeder. Dazu muss man genau beobachten, ohne zu beschönigen, entlarven, ohne zu verletzen und sich selbst zurücknehmen. Dörte Hansen ist eine echte Künstlerin in diesem Metier. Bereits ihr Überraschungs-Erstling „Altes Land“, der gleich ein Bestseller wurde, hatte genau diese Alltagsthematik zum Inhalt. Damals waren es die Hamburger Stadtwesen, die beim Besuch im vermeintlich idyllischen Alten Land von der Romantik übermannt wurden und die angesichts der Urwüchsigkeit der dortigen Landschaft beschlossen, alle Zelte in der grauen Großstadt abzubrechen, um aufs Land zu ziehen. Sie scheiterten grandios als Zugereiste in der kargen, schroffen Obstplantage Hamburgs … In ihrem voll Spannung erwarteten zweiten Roman „Mittagsstunde“ nimmt Hansen vordergründig ein sehr ähnliches Thema zum Gegenstand ihrer Beobachtungen. Wieder geht es um das ländliche, norddeutsche Leben, das in krassem Gegensatz zum städtischen Leben steht. Brinkebüll heißt das kleine Geestdorf, das im Zentrum ihres Romans steht. Der Ort ist frei erfunden – man sucht ihn vergebens auf der Landkarte -, doch er könnte überall auf dem platten Land in Norddeutschland wirklich vorkommen. Eingerahmt von karger Landschaft, von Äckern und Feldern, die immer weniger bewirtschaftet werden. Bauer sein ist kein Spaß. Man muss verzichten können, auf den normalen Luxus anderer Berufe, Kühe wollen gemolken und gefüttert werden, ausschlafen ist da nicht. Kein Job für Feiglinge. Ingwer Feddersen kommt aus diesem Kuhnest, doch, wie den meisten jungen Leuten, wurde es ihm zu eng dort, er zog aus, studierte, kam immer seltener zurück, promovierte, wurde Hochschullehrer für Archäologie und blieb in der Stadt. Den Kontakt brach er, im Gegensatz zu manch anderen, nicht ab, denn er war nicht voller Groll auf seine alte Heimat fortgegegangen. Ingwer, im besten Midlife-Crises-Alter, beantragt an seiner Universität ein Sabbatical, also eine kreative Auszeit vom alltäglichen Wahnsinn. Zu seinem großen Glück wird der Antrag bewilligt und er kann seiner Sackgassen-Beziehung mit einer egomanischen Architektin und den sturen Studenten entfliehen. Zumindest auf Zeit. Er beschließt, „die Alten“ zu pflegen, die in Brinkebüll die Dorfkneipe betreiben, obwohl sie beide schon steinalt sind. Eigentlich wäre er der legitime Nachfolger gewesen, der designierte Wirt des „Dorfkrugs“. Doch er war ja ein Bücherwurm, interessierte sich mehr für Wissenschaft als für die Dorfwirtschaft, war klug, aufstrebend, neugierig – so gar nicht interessiert daran, in diesem kleinen Nest zu versacken. Die Alten haben es ihm nie ganz verziehen, dass er sie im Stich ließ – doch was sollten sie tun. Sie waren ja froh, dass „de Jung“ überhaupt noch ab und zu vorbeischaute. „Die Alten“ sind Ingwers Großeltern. Trotzdem nennt er sie Vadder und Mudder. Seine leibliche Mutter heißt Marret und ist ein verwirrtes Menschenkind. Die Tochter von „den Alten“. Überall sieht sie Zeichen, hat Vorahnungen, die sie meist gegen den Willen der Zuhörer allen und jedem kundtut, der ihr über den Weg läuft. Sie kann schlecht an einem Ort sitzen bleiben, lieber schlurft sie durch die Gegend, klappert auf ihren Holzpantoffeln durch das Örtchen und schnackt mit den Leuten. Marret Ünnergang wird sie nur genannt, denn über wenig anderes redet sie, als über den bevorstehenden „Untergang“. Marret war 17 als sie schwanger wurde, wer der Vater ist, hat sie nie verraten – doch das Dorf hat da so eine Ahnung. Zu der Zeit gab es nämlich drei Landvermesser, die im Dorfkrug ein und ausgingen – sicher war einer dieser jungen, feschen Herren der „Übeltäter“. Marret Ünnergang kümmert sich auf ihre Weise liebevoll um den kleinen Jungen, doch eine wirkliche Mutter kann sie nicht sein, zu sehr ist sie mit sich und ihren eigenen Absonderlichkeiten beschäftigt. Und so rücken Vadder und Mudder immer stärker in die Elternrolle. Für den aus dem Krieg zurückgekehrten und an Seele und Leib verwundeten Vadder Sönke ein echtes Glück – Ingwer ist für ihn der Sohn, den er nie hatte. Und so fehlt es Ingwer an nichts. All das, die ganze norddeutsch-zurückhaltende Zuneigung, ja sicherlich sogar Liebe, möchte er den beiden Alten nun als Erwachsener zurückgeben. Er will ihnen den Gang ins Altersheim ersparen und kümmert sich nach Beginn des Sabbaticals hingebungsvoll um die beiden. Rührend ist das und anstrengend. Mudder Ella ist dement, muss wie ein kleines Kind rund um die Uhr bewacht und beschäftigt werden, Sönke hingegen ist fit, nur der Körper ist allmählich zu alt für all das, was der Geist noch könnte. Ingwer hilft bei allem und kehrt so wieder zurück in den Schoß der Dorfgemeinde. Im Wirtshaus treffen sich alle, er kriegt viel mit, trifft alte Weggefährten wieder. Philosophisch wird es dann immer wieder, denn wer ist denn nun selbstbestimmter – er, der fortging, oder die, die blieben? Da gibt es ganz unterschiedliche Gestalten, zum Beispiel den Cowboy-Fan Heiko, der früher immer windelweich geschlagen wurde von seinem Vater. Alle wussten es, aber keiner tat etwas, um dem armen Kerl zu helfen. Doch Heiko fand seinen eigenen Weg aus der Misere: Sein erklärtes Lebensziel war es, dem Vater nicht die Genugtuung zu geben, Schmerz, Trauer oder gar Angst in seinem Gesicht lesen zu können. Er ertrug stoisch all das Leid. Er überlebte das ganze Drama – und, man freut sich als Leser mit ihm – er blieb wohl weitgehend seelisch unverletzt durch seine eigene Umgangsweise mit diesem miesen Vater. Heiko ist so schräg wie früher, doch er macht sein Ding. Ganz cool. Er leitet eine Line-Dance-Gruppe. Er leitet sie! Das kleine Würmchen von früher stellt sich an die Spitze einer Gruppe und macht ihnen etwas vor. Und, was Ingwer noch mehr erstaunt: er ist wirklich talentiert! Und er hat seine große Liebe gefunden. „Dat Heupeerd“, wie Sönke sie gnadenlos hinter vorgehaltener Hand Ingwer gegenüber nennt. Eine wenig attraktive, korpulente Rothaarige, deutlich größer als Heiko – doch mit dem Herzen am rechten Fleck. Sie umsorgt ihren „Cowboy“ liebevoll und wenn die beiden zusammen tanzen, sind sie fast wie Ginger und Fred … nun ja … fast 😉 Doch Ingwer sieht, was Heiko hat und er nicht: eine liebevolle Partnerschaft, ein Hobby, in dem er voll aufgeht, und eine Gruppe zu der er gehört – kurz: ein ausgefülltes Leben! Dörte Hansen springt in ihrem Roman kapitelweise zwischen Gegenwart und Vergangenheit hin und her – auf sehr gekonnte Weise. So erfährt die Leserschaft viele liebevoll beobachtete Begebenheiten aus dem Dorfalltag, seien sie von früher, seien sie von heute. Und obwohl manche Figur nur für ein Kapitel auftaucht, schafft es die Autorin, die Persönlichkeiten so zu skizzieren, dass man sich ihnen nah fühlt. Wenn ihnen dann überraschend etwas zustößt, fasst einen das ganz schön heftig an. Doch es wäre eben nicht Dörte Hansen mit ihrem nüchtern-norddeutschen Blick auf die Dinge, wenn solche Vorkommnisse, Dramen und Tragödien des Alltags nicht auch thematisiert werden würden. Hier wird das (Land-) Leben realistisch beschrieben, ohne jeden Kitschfilter. Am Ende steht über allem die Frage der persönlichen Einstellung zum Gang des Lebens. Und so legt die Autorin ihrem Protagonisten Ingwer ein paar schöne, schlichte und sehr wahre Gedanken zurecht: Die Zeit der Bauern ging zu Ende. Man blies das Feuer aus, man brach die Zelte ab und ließ die Sesshaften zurück. […] Zeitalter fingen an und endeten, so einfach war das. Für einen, der vom Fach war, hatte er erstaunlich lang gebraucht, das zu kapieren. […] Und so ist es wohl: Liest man das großartige Buch, wird man stellenweise melancholisch und möchte sie fast miterlebt haben, diese Zeit, in der alles noch wirklich von Hand gemacht wurde auf dem Land. Als der Bauer keine Massentierhaltung haben musste, um sich zu finanzieren. Als ehrliche Arbeit noch ehrlich wertgeschätzt wurde. Doch wenn man weiterüberlegt und ehrlich bleibt, weiß man, dass dies immer nur die eine Seite der Medaille war. Die andere war die dunkle, anstrengende, ungehobelte Seite … Es ist also einfach, wie es ist. Etwas geht zu Ende oder ist schon zu Ende gegangen und man kann es nicht rückgängig machen. Aber wo eine Tür geschlossen wird, geht eine andere auf und so bleibt alles beständig in Bewegung – auch auf dem nordfriesischen Land.

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