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Rezension zu
WEST

Einmal westwärts und zurück

Von: Michael Kuhl
22.06.2019

Wie war das noch mit Luther? Luther-Jahr und Luther-Legofiguren und Margot Käßmann als Botschafterin Luthers? Alles Schnee von gestern! Wir hier in Berlin haben 2019 gleich zwei Helden auf den Schild gehoben. Auf nach Neuruppin!, ruft Fontane durch den Regionalexpress. Humboldt hat es einfacher. Ihm zu Ehren wird ein Schloss gebaut und darunter die Kanzler-U-Bahn. Wieso ich das schreibe? Weil die Herren Luther und Fontane und Humboldt die Welt entdeckten und entdecken wollten. So wie John Cyrus Bellman die Welt entdecken will. Zu einer Zeit, als die USA gerade bis St. Louis reichen. Ein Land von trampeligen Bauern, Sklavenhaltern und sehr viel Nichts. 1815 – Bellman ist eigentlich kein Abenteurer. Vielleicht ein kleiner. Jedenfalls liebt er seine Tochter Bess und im Geiste ihre Mutter. Die Ansammlung von Häusern, in der sie leben, ist keineswegs groß, geschweige denn mondän. Doch was man braucht, ist vorhanden: Die Main Street, die Kirche und vor allem die Nachbarstadt Lewistown mit ihrer Bibliothek. Bellmans Schreib- und Lesekompetenz ist leidlich. Aber er verstand die Worte im Artikel der Zeitung. Einem Artikel, in dem von großen, gar riesigen Tieren die Rede war. Und da packt Bellman beim Lesen der Drang zum Suchen und Nachsinnen. Auf zu neuen Ufern, auch wenn die See die Prärie und der Preis einer der höchsten sein wird. Er will sie finden. Muss sie finden, diese gigantischen Tiere. Er will der Erste sein, der sie lebendig sieht. Also ritt er los und die „Vorstellung, dass es jenseits der bekannten Welt immer noch etwas gab, von dem man nie geträumt hätte, verlieh ihm Kraft“ (S. 142). Bellman reitet einer ungewissen Zukunft entgegen. Getrieben von Neugier und Forscherdrang. Menschlicher Neugier, die Bellman veranlasst, seine Tochter und den Hof Julies Argwohn zu überantworten. Julie, Bellmans rüde Schwester, die nicht nur Bellmans neuen Zylinderhut als irrsinnig bezeichnet. Als Bellman aufbricht, war Bess grad zehn gewesen. Man galt viel früher als erwachsen, damals. Anyhow! Westwärts, immer westwärts. Dem Sunset Boulevard entgegen. Bess vergöttert ihren Vater kindlich, weshalb Carys Davies einen Roman in leichter Sprach schrieb. Einer Sprache, die auf zarte Weise Bellmans infantile Neugier herrlich transportiert und zugleich mit der Wortwahl von Kindern kongruent zu seien scheint. ‚West‘ sind 204 Seiten Westernroman, ohne klassische Westernklischees zu bedienen. Dafür bedient sich Davies zeitgenössischer Stereotype. Rollenbilder, bei denen ich selten den Eindruck hatte, sie seien aufdringlich. Im Sub-Subtext verpackt, ursprünglich, manchmal keusch, immer stringent und nie kritiklos. Carys Davies Sprache ist Schlüssel zum Verständnis – nicht die Handlung. Eine Sprache, die viel abverlangt. Was The Guardian umwerfend bezeichnet, muss gesucht und will gefunden werden. Es steht zwischen den Zeilen, nicht in ihnen. ‚West‘ ist weniger Roman als Fabel. Eine Fabel mit Ringparabel der neuen Welt im Geiste der alten. Einer Parabel vom Aufbrechen und Umkehren. ,West‘ fügt sich in meine Lesereihe zur US-amerikanischen Geschichte. Nach ‚Tage ohne Ende‘ und ‚Butcher’s Crossing‘ bildet ‚West‘ den Kontrapunkt. Kontrapunkte sind wichtig für Harmonie. Und ‚West‘ ist ein harmonischer Roman. Eine Fabel als Roman, die vordergründig mild und gefahrlos, doch im Kern brausendes Toben von West nach Ost mit sich bringt. Mein Fazit: ‚West‘ ist Carys Davies‘ ‚Stechlin‘. Tief, sehr tief. Und klar! Klar und erfrischend. Das Richtige bei 35 Grad. Expeditionen lohnen nicht nur an Humboldts Geburtstag.

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