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Rezension zu
Das kurze Leben des Ray Müller

Die Rezension bezieht sich auf eine nicht mehr lieferbare Ausgabe.

Nach dem Abgrund

Von: Constanze Matthes
06.05.2015

Was hebt die eigene Welt aus den vertrauten Angeln, wie kann einem der Teppich unter den Füßen weggezogen werden? Wann wird aus Unschuld Schuld? Marko Kindler weiß darüber eine Geschichte zu erzählen, es ist seine eigene. Er blickt zurück auf die vergangenen Jahre, als er in einer Gefängniszelle auf den Psychologen wartet, nachdem er seinen nur wenige Wochen alten Sohn entführt hat. Dabei lief es für den Juristen, Übersetzer und Krimi-Autor doch alles wie am Schnürchen, nachdem er aus einem Tief wieder nach oben gekommen war. Nach einer gescheiterten Beziehung trifft er auf die Journalistin Lycile, das Paar bekommt mit dem kleinen Ray nach zahlreichen Fehlgeburten endlich das ersehnte Kind. Doch der Schein einer perfekten Familie trügt. Denn allzu viel ist passiert in jenen Jahren. Autor Ralf Bönt lässt in seinem aktuellen Roman “Das kurze Leben des Ray Müller” seinen Helden die besondere Erfahrung machen, einen Seelenverwandten gefunden zu haben. Marko lernt in New York City Nelly kennen, eine charismatische und gerade sehr angesagte Künstlerin. Marko soll sie für einen Band über Künstler der Stadt interviewen. In den weiteren Gesprächen wird ihnen beiden klar, dass sie gemeinsam unter einer Schilddrüsen-Erkrankung leiden, dieselben Medikamente nehmen. Mit diesem gemeinsamen Hintergrund kommen sie sich seelisch näher, nicht unbedingt körperlich. Denn Nelly ist lesbisch, Marko mit Nadja zusammen und Vater zweier Kinder. Trotz dieser kurzen Zeit in New York sind die Leben beider fest verschnürt, trotz der folgenden Zeit, die unaufhörlich verrinnt und sie beide verändert. Nadja trennt sich von Marko. Seine Krankheit, die sich unter anderem durch Allergien, Asthma, Schlaflosigkeit und einer erhöhten Libido bemerkbar macht, schwächt ihn so ernsthaft, dass er kaum seinen Beruf ausüben kann, nahezu vor dem finanziellen Ruin steht. Während eines Stipendium-Aufenthaltes in den USA lernt er schließlich Lycile kennen. Sein Leben bekommt Auftrieb. Durch eigene Nachforschungen kommt er der Ursache seiner Krankheit auf die Spur: Er hat eine Quecksilber-Vergiftung infolge einer fehlerhaften Zahn-Behandlung erlitten. Er bekommt sein Leiden unter Kontrolle, ein zweiter Krimi wird von seinem Verleger angenommen. Und da ist noch der kleine Ray, der die Beziehung eigentlich perfekt macht. Wenn nicht der plötzliche Tod Nellys, die so herrlich ehrlich mit Kraftausdrücken und aus purer Verzweiflung “über die Scheißwelt doziert”, Marko aus der Bahn wirft. Was dann geschieht, soll der Leser selbst erfahren. Nur dazu: Es erschüttert sehr. Mehr als der Tod der Künstlerin, obwohl auch dieser sehr tragisch ist. Denn Bönt konzentriert sich hauptsächlich auf seinen männlichen Protagonisten, auf dessen Erlebnisse und Erfahrungen, auf dessen Gefühle und Gedanken. Dafür nutzt er den besten Weg: Das Geschehen wird aus der Sicht Markos erzählt. Doch die Art und Weise ist auch die Besonderheit des Romans, die ihn auszeichnet. Einige Rezensenten haben kritisch bemerkt, dass dem Werk ein roter Faden, ein Thema fehle. Doch all dies gibt es in einer sehr speziellen Form. Wie ein Gedankenstrom, der sich verschiedenen Zeitebenen, verschiedenen Themen und Personen abwechselnd zuwendet, erscheint das Erzählen dieser Geschichte, die der Leser erst aus den vielen kleinen Berichten wie bei einem Puzzle-Spiel zu einem komplexen Bild zusammensetzen muss. Es gibt viele detailliert erzählte Szenen, und man bekommt den Eindruck, dass hinter jedem Gefühl, jeder Regung der Protagonisten eine weitere Schicht verborgen ist und auch bleibt. Dies verlangt Konzentration und Hingabe, keine Frage. Und Bönt gelingt es sehr oft, den Leser an seinen Helden zu binden und einen wunderbar runden Erzähl-Fluss zu gestalten. Vor allem die Szenen, in denen die enge auch körperliche Verbindung zwischen Vater und Sohn und dieses Wunder des neuen Lebens beschrieben werden, sowie jene Passagen, in denen von New York, dem 11. September und über den Konflikt zwischen der künstlerischen Elite und der politischen Entwicklung in den USA berichtet wird, zähle ich zu den schönsten Szenen des Buches. Auch der Humor, der immer wieder an einigen Stellen vor allem mit ironischen Seitenhieben auf die Literaturszene durchscheint, bereichert diesen Roman ungemein. Doch ab und an verlor ich selbst etwas die doch intensive Bindung zum Text, waren mir die Szenen rund um Sex und die Libido und die mit vielen medizinischen Fachwörtern versehenen Passagen über die Erkrankung und die Möglichkeiten der Behandlung etwas zu viel der Detailliebe. Dabei hätten die schwierige Mutter-Sohn-Beziehung, die Marko erlebt hat, sowie die schrecklichen Missbrauchs-Erfahrungen Nellys durchaus mehr Platz und Aufmerksamkeit verdient. Beides wird gefühlt nebenher erzählt oder taucht nur in kurzen Passagen auf. Bönts Roman – der Berliner Autor, bekannt für seine Werke “Das entehrte Geschlecht” und “Die Entdeckung des Lichts”, ist für sein schriftstellerisches Schaffen schon mehrfach ausgezeichnet worden – ist ein schonungsloser Bericht, ein Geständnis, eine Offenbarung, nichts wird verheimlicht. Vor allem die eigenen Schwächen nicht, ob sie nun physischer oder psychischer Art sind. In der Krankengeschichte des Protagonisten verbirgt sich auch ein Gegenentwurf zu all jenen Romanen, die Krankheit und körperliches Leid im Alter beschreiben. Hier trifft es einen jungen Mann, der durchaus erfolgreich sein könnte – als Mensch, Mann und Vater und als kreativer Autor. Der kranke Körper bremst den Geist aus. Und wenn dann die traumatisierenden Erlebnisse der Kindheit und Jugend sowie die eigenen Ansprüche und die der anderen hinzukommen, scheint das Fass überzulaufen. Und nur die Frage bleibt, was oder wer hätte die nachfolgenden Ereignisse aufhalten können.

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