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Rezension zu
Die Schande Europas

Die Schande Europas

Von: Dagmar
23.09.2020

Jean Ziegler verfasst ein Plädoyer gegen das Wegschauen, gegen die Gleichgültigkeit gegenüber den unmenschlichen Zuständen in den sogenanten „Hotspots“ auf dem europäischen Kontinent, den Lagern für geflüchtete Menschen. Es widerspricht jeglicher Logik, Menschen in riesigen Lagern, namentlich in Moira auf der Insel Lesbos unter den skandalösesten Bedingungen zusammenzupferchen, um dadurch „Abschreckung“ für künftige Flucht zu erzielen. Vom Krieg, vom Hunger, von Klimakatastrophen, von politischer Verfolgung traumatisierte Menschen werden ihr Herkunftsland trotzdem verlassen. Und es widerspricht jedem Völkerrecht, Menschenrecht, Recht auf Asyl. Und es ist die Schande Europas, das hinzunehmen. Als Vizepräsident des Beratenden Ausschusses des Menschenrechtsrates der Vereinten Nationen war Ziegler 2019 auf Lesbos. Die fünf „Hotspots“ an den Außengrenzen der EU sind für 6400 Personen ausgestattet und sollen 2019 im November 39.000 geflüchtete Menschen fassen, wovon beinahe zwei Drittel Frauen und Kinder sind. Die Überwachung dieser Lager und die Sicherung der Zäune wird uns 2022 29 Milliarden € kosten. „Kein Mensch ist illegal“, diesen Sinnspruch nutzen Gegner der Abschottung und Ausweisungspolitik seit Jahren. Die „Genfer Flüchtlingskonvention“, hier bei Ziegler in Teilen abgedruckt, bildet die Grundlage dafür. Nun forderte Ziegler bereits 2007 dass auch Hunger als Fluchtursache in Artikel 1 dieser Konvention aufgenommen wird. Vom Hochkommissar der Vereinten Nationen Antonio Guterres als unverantwortlich abgelehnt. Monatelanges Warten, das Körper und Geist zermürbt, verdorbenes Essen, über mafiöse Handelsstrukturen von dominierenden Zulieferern ausgeteilt, viel zu wenig Toiletten, Müll um selbst gebastelte Unterkünfte, Krankheit, sexuelle Übergriffe …, von all dem haben wir gehört. Jeder Europäer trägt dazu bei, zu dieser „Verschwörung des Schweigens“ (S.65) 2018 haben Schwestern und Mediziner von Ärzte ohne Grenzen das Leid nach einem Sturm auf Lesbos dokumentiert und veröffentlicht. „Sie fotografierten und filmten auch die Fäkalienströme, die sich aus den Latrinen ergossen, die verstörten, hungernden Menschen, die inmitten des Unwetters vor den halb zerstörten Nahrungsmitteldepots Schlange standen, um eine warme Mahlzeit zu bekommen.“ (S.67) Es hat sich nichts geändert. Ziegler vergleicht die Bedingungen, die hier in den Auffanglagern geschaffen wurden, mit den Überlebensbedingungen in einstigen Konzentrationslagern. Er fordert daher, dass allen Staaten, welche die Umverteilung geflüchteter Menschen innerhalb Europas, dass all diesen Staaten alle Zahlungen der Europäischen Union gestrichen werden. „Die Europäische Union ist eine demokratische Konstruktion. Es gibt keine prinzipielle Ohnmacht in der Demokratie. Wir, die Bürgerinnen und Bürger, verfügen über die Macht der Schande. Es ist an uns, die Machtverhältnisse zu verändern. Wir müssen die öffentliche Meinung mobilisieren und unseren Kampf organisieren. Der Strategie der Abschreckung, die die moralischen Grundlagen Europas zerstört, den Krieg erklären.“ (S.143) Er bezieht sich hierfür auf das Recht auf Widerstand als genuin demokratisches Mittel und ganz wesentlich zur Begründung: auf die Menschenrechte als „definitionsgemäß die letztgültige Norm aller Politik […]“ (S.130) Dieser Verrat an den Menschenrechten wiegt schwer. Er betrifft uns selbst, denn Menschenrechte gibt es entweder für alle, oder für keinen. Kapitel XIV widmet sich den Kinderrechten, das weltweit am häufigsten unterzeichnete und ratifizierte Rechtsdokument – als einzigem Land der Erde von den USA nicht ratifiziert, weil sie die Hinrichtung Minderjähriger in einigen US-Bundesstaaten immer noch erlauben. Sich die Präambel und einige der Artikel der Erklärung der Rechte des Kindes einmal durchzulesen, gerade auch in Hinblick auf geflüchtete Minderjährige, die 35 % in den „Hotspots“ ausmachen, führt uns das kolossale Versagen vor Augen, das uns vor der Welt zu Schandtätern macht. Wie immer ist es bei Jean Ziegler die echte Leidenschaftlichkeit für die Themen, für die er als Soziologe und als Inhaber verschiedener Ämter innerhalb der Vereinten Nationen seit Jahrzehnten streitet, die sich in seinen Büchern auch Raum nimmt. Und wie immer ist in dieser Leidenschaftlichkeit ein Optimismus, Dinge verändern zu können. Im vorigen Buch „Was ist so schlimm am Kapitalismus“ verweist er auf ein neues historisches Subjekt, auf die weltweite Zivilgesellschaft. In der Regel streitet diese Zivilgesellschaft für ihre eigenen Rechte. Aber was ist mit den Rechten der Anderen? Dabei geht es immer auch um uns selbst.

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