Sie haben sich erfolgreich zum "Mein Buchentdecker"-Bereich angemeldet, aber Ihre Anmeldung noch nicht bestätigt. Bitte beachten Sie, dass der E-Mail-Versand bis zu 10 Minuten in Anspruch nehmen kann. Trotzdem keine E-Mail von uns erhalten? Klicken Sie hier, um sich erneut eine E-Mail zusenden zu lassen.

Rezension zu
Hör auf zu lügen

Ein Versuch

Von: Bjoernandbooks
18.07.2022

Der 17-jährige Philippe durchlebt die Höhen und Tiefen der Pubertät: Als hochintelligenter junger Mann fällt ihm die Schule leicht, die sozialen Kontakte jedoch sichtlich schwerer. Schon früh entdeckt er, dass er anders ist als seine Mitschüler, dass er sich zu Jungen hingezogen fühlt. Aus der Ferne schwärmt er für Thomas, bei dem er sich sicher ist, dass er seine Gefühle niemals erwidern wird. Doch es kommt anders: Thomas nähert sich ihm, und sie beginnen eine zunächst nur körperliche, bald auch emotionale Beziehung. Einzige Bedingung, die Thomas stellt: Ihr Miteinander darf nicht an die Öffentlichkeit geraten. Dazu ist er, Sohn eines Winzers und fest in den provinziellen Strukturen verankert, nicht in der Lage – ein Outing, undenkbar! Im Geheimen intensiviert sich ihre Beziehung, hinterlässt Spuren in Philippes Herzen und auch bei Thomas. Als dieser nach einem Aufenthalt bei Verwandten in Spanien nicht zurückkehrt, trennen sich die Wege der zwei Liebenden. Doch Philippe kann emotional nie ganz loslassen, bleibt gefühlsmäßig verbunden. Eine Begegnung zwanzig Jahre später reißt die fast verheilten Wunden wieder auf... „Man gewöhnt sich an alles, auch, dass Menschen, mit denen man sich für immer verbunden glaubte, die Seite wechseln“ (S. 144) Noch bevor sich in den letzten Jahren das Wort „autofiktional“ zu einem Modebegriff der Literatur entwickelte, erschien 2017 „Hör auf zu lügen“ im französischen Original und ein Jahr später auch auf Deutsch. Bessons Roman ist nahe an seiner eigenen Biographie, so nahe, dass Fiktion lediglich in der literarischen Repräsentation, in der Weise des Erzählens präsent ist. Intensiv und dabei berührend zaghaft lässt uns Besson in seinen Kopf schauen – und vor allem tief in sein Herz. Das Aufkeimen der Gefühle füreinander, die vorsichtigen Annäherungen, die Entwicklung von körperlichem Interesse zu einer tiefen Verbundenheit – all diese Aspekte, die dem Coming-of-Age-Roman innewohnen, sind auch bei Besson präsent. Wie ein Deus ex Machina kommentiert der Autor aus der Gegenwart, lässt Zukünftiges in Vergangenes fließen, referenziert auf andere Autoren, die sein Leben durch eigene Lektüre geprägt haben. Besonders intensiv erscheint die Verbindung zum Werk von Hervé Guibert, doch wo ebendieser seine Narrative als Textlawinen auf seine Leser*innen herunterprasseln lässt, zeigt Besson eine Empfindsamkeit, eine Zögerlichkeit, die mit hoher Sensibilität seinen Protagonisten, sich selbst, textuell widerspiegelt, wodurch er im Ausdruck seines Schreibens Charakterzüge Guiberts übernimmt. Als zentrale Topoi stehen sich hier der Sehnsuchts-Aspekt als dem Text innewohnende Qualität und die Reflexion über eigene Schreibprozesse zur Seite. Besson gelingt es mühelos, aus seinem Text auszusteigen und in ihn zurück zu gleiten, übergangslos wechselt er zwischen Kommentar und Handlungsebene – literarische Klimmzüge, die heute auch bei Édouard Louis zu erkennen sind. Besonders im zweiten und dritten Teil, die den Autor als erwachsenen Mann und erneute Überschneidungen mit Thomas' Leben zeigen, intensiviert Besson diese Bemühungen, zeichnet er doch ein Bild der Chronifizierung, der dauerhaften Präsenz des Schmerzes bei Thomas. Lässt sich eine erste Liebe je vergessen, gerade wenn sie so schmerzhaft enden musste? Philippe Besson schafft mit „Hör auf zu lügen“ eine Art Manifest, das dem konservativ-provinziellen Denken den Spiegel vor die Nase hält, das aufzeigt, was für schwerwiegende Folgen eine Unfreiheit im Denken und Handeln für im Aufwachsen begriffene Individuen haben kann. Hier wird nicht nur eigene Geschichte verarbeitet, sondern über eine fast schon scheue Literarisierung Kritik an einer Gesellschaft geübt, deren Offenheit bis zum heutigen Tage noch nicht allgegenwärtig ist. Erschütternd, reflektierend und zutiefst berührend!

Wir stellen nicht sicher, dass Rezensent*innen, welche unsere Produkte auf dieser Website bewerten, unsere Produkte auch tatsächlich gekauft/gelesen haben.