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Rezension zu
Der große Wunsch

Zwischen Grenzen und Ideologien

Von: Myriade
22.11.2023

Sherko Fatahs Roman handelt von einer Vater-Tochter Beziehung, er handelt auch von Wurzeln und Heimat , von einer lebensfeindlichen Landschaft, vom Leben der Kurden, eines Volks ohne eigenen Staat. Er handelt vom IS, auch Daesh genannt zu dem die Tochter des Protagonisten gereist ist um sich mit einem „Bruder“, einem Kämpfer des Daesh zu verheiraten. Der Protagonist Murad, dessen Name „der sehnliche Wunsch“ bedeutet, sucht nach seiner Tochter Naima, bzw lässt er von einheimischen Profis suchen, er ist kein Abenteurertyp. Er bezahlt viel für Informationen und streift inzwischen selbst im Grenzgebiet zwischen der Türkei und Syrien herum, im Kurdengebiet, der Heimat seines Vaters. Während der Protagonist in dieser sehr eindrucksvoll beschriebenen Landschaft unterwegs ist, denkt er über seine Vaterrolle nach, in der er sich gescheitert fühlt. Er bedauert, seine Tochter im Grunde so wenig zu kennen und ihr auch zu wenig von den Wurzeln ihres Großvaters erzählt zu haben. „Murad dachte an Deutschland zurück und kam zu dem Schluss, dass dieses Heimatgefühl für die meisten Leute dort etwas Selbstverständliches war; sie waren wo sie hingehörten.. Für mich wird es das nicht geben, dachte Murad, ich bin nie dort, wo ich hingehöre (…) War das vielleicht auch der Grund für Naima, hatte sie sich vielleicht auf den Weg zu ihrem Ort gemacht? (…) es wollte in Murads Augen nicht so recht zu Naima passen. Es schien ihm einfach zu sentimental. Im Grunde aber entsprach es nicht dem Bild, das er sich von ihrer Generation machte. Passte ein solches Gefühl überhaupt zu diesen jungen Leuten mit ihren im Licht der Handydisplays bleichen Gesichtern? “ S.76 Ebenso wie schon Murad selbst ist seine Tochter in Deutschland geboren und aufgewachsen ohne Verbindung zu den kulturellen und religiösen Traditionen des kurdischen Volks. Ihre Mutter ist Deutsche, der Vater vermutet aber, dass es Naima nicht gelungen ist, ihre Wurzeln zu definieren und ihren Platz in der Welt zu finden. Und eines Tages beginnt sie sich für den Islam zu interessieren bzw für einen jungen Mann, der die Absicht hat, zum Daesh nach Syrien zu reisen. Das Buch ist ebenso wie drei Vorgänger-Romane von Sherko Fatah im von mir hochgeschätzen Luchterhand-Verlag erschienen. Sherko Fatah, geboren 1964 in Ostberlin, ist ein deutscher Schriftsteller mit irakisch-kurdischen Wurzeln. Er hat in der DDR, in Wien und in Westberlin gelebt, wobei die Familie oft in den Irak gereist ist. Er hat Philosophie und Kunstgeschichte studiert. In allen seinen Büchern thematisiert er die gewalttätigen Auseinandersetzungen im kurdischen Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und der Türkei sowie deren Auswirkungen bis nach Europa. Seine Figuren erleben Entwurzelung, Krieg, Gewalt, Folter, Flucht und Exil in verschiedenen Facetten. Man kann also vermuten, dass der Protagonist dieses Buchs einiges mit dem Autor gemeinsam hat. Die Schmuggler, die sich professionell mit dem Auffinden von Personen im Gebiet des Daesh befassen, haben eine junge Frau gefunden, von der sie vermuten, dass es sich um Naima handelt. In Mardin überreichen sie ihm ein Foto, aber Murad ist sich nicht sicher, ob es sich bei der auf dem Foto dargestellten verschleierten Frau tatsächlich um seine Tochter handelt. Es gibt aber einen weiteren Hinweis: eine Art Audiotagebuch, das auf nicht ganz durchschaubare Art und Weise Stück für Stück in den Besitz der Schmuggler kommt. Dieses Tagebuch, von dem man bis zuletzt nicht weiß, ob es tatsächlich von Murads Tochter stammt, ist ein wichtiges Element des Romanaufbaus. Abgesehen von kleineren Begegnungen mit Bewohnern der Region und den Leuten bei denen Murad wohnt, ist es das einzige Element, das die Handlung vorantreibt. Aus diesem Tagebuch erfährt man einiges aus dem Alltagsleben im Kalifat und über die Ideologie, die dort herrscht. Ansonsten ist der Islam und seine Auswüchse in diesem Roman kein sehr wichtiges Thema. Durch seinen Fahrer und die Streifzüge durch die Gegend lernt Murad auch eine kurdische Kämpferin gegen den Daesh kennen. Das Kalifat ist fast am Ende, Rakka, die Stadt, in der sich die vermutete Naima befindet, kann jeden Moment fallen. Die Schmuggler drängen darauf schnell zu handeln und Naima aus dem Kriegsgebiet herauszuholen, doch Murad zögert, will zuerst mitkommen, dann doch wieder nicht. Hier tritt nun eine Person auf, von der schon öfter die Rede war nämlich Murads Freund Aziz. Von Aziz erfährt man, dass er zu Murad kommen will, dass er irgendwo in der Gegend ist und schließlich, dass er selbst in Rakka war dass es im gelungen ist, Naima in Sicherheit zu bringen. „Vielleicht war es eine Schnapsidee, aber ich war da, als sie mich brauchte. Und ich habe ihr geholfen. Das habe ich auch für dich getan“ S373 Die Kurden haben bereits die Macht übernommen. Aziz, Murad und Naima treffen zusammen und die ganze Problematik der Vater-Tochter-Beziehung wird klar. „Naima erhob sich sofort und drängte sich an Murad vorbei, stieß ihn ein wenig von sich. Er fiel rückwärts, saß am Boden und blickte ihr nach, wie sie aus dem Raum huschte (…) Schwerfällig erhob er sich und ging ihr nach. Bereits vom Gang aus sah er Naima mit wehender Abaya auf Aziz zulaufen und ihm um den Hals fallen. Da blieb Murad stehen. Kurz zweifelte er an dem, was er sah, dann sickerte die Erkenntnis in ihn ein. Aziz hielt seine Tochter fest in den Armen.“ S 377 Tja, über dieses „seine Tochter“ kann man nachdenken, erfährt aber nichts weiter, ebenso wenig wie darüber, ob das Audiotagebuch nun von Naima stammte oder doch nicht. Obwohl ein alles andere als geruhsames Thema im Zentrum dieses Romans steht, plätschert er doch recht gemütlich dahin. Er erinnert mich etwas an einen Thesenroman: „als Vater mit kurdischen Wurzeln sollte man seiner Tochter … “ Alles in allem hat mir der Text gut gefallen. Die Sprache liest sich sehr flüssig, die Beschreibungen der Region haben mich interessiert, ebenso das Audiotagebuch über das Leben im „Kalifat“, und auch die etwas langatmigen Überlegungen, die Murad über Heimat und Wurzeln anstellt. Jemandem auf der Suche nach Spannung, kann ich diesen Roman nicht empfehlen, wohl aber Leser*innen, die sich für die Thematik interessieren.

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