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Rezension zu
Die Unvollkommenheit der Liebe

Selbstfindung

Von: Constanze Matthes
15.09.2016

Rückblicke haben oft einen ambivalenten Charakter. Und immer bleibt dabei die Frage, welchen Ereignissen der Vergangenheit stellt man sich in seinen eigenen Erinnerungen, welche werden eher unterdrückt, gemieden, ausgeblendet. Meist sind es vor allem überraschende, teils auch tragische Geschehnisse, die Erinnerungen hervorholen. Wegen einer Infektion nach einer Blinddarm-OP liegt Lucy Barton für mehrere Wochen im Krankenhaus. Eines Tages sitzt ihre Mutter am Bett, völlig überraschend. Denn Mutter und Tochter haben sich gemieden und einige Jahre lang nicht gesehen, aber nun vieles zu berichten. In ihrem neuen Roman erzählt Elizabeth Strout mehrere Schicksale zugleich, obwohl im Vergleich zu früheren Werken dieses Buch der Pulitzerpreisträgerin vom Umfang her recht schmal ist. Im Mittelpunkt steht die Autorin Lucy Barton, die, konfrontiert mit der überraschenden Anwesenheit ihrer Mutter, weitere Jahre später auf ihre Kindheit und Jugend, die folgenden Jahre und eben jenes Ereignis in der Klinik zurückblickt. Als erwachsene Frau mittlerweile in der trubeligen Metropole New York heimisch, sind ihre früheren Jahre in der ländlichen Provinz von Illinois ein herber Kontrast. Die Familie war bettelarm, die Bartons galten als Außenseiter im Dorf. Der Vater arbeitete als Maschinist, die Mutter erledigte Näharbeiten. Ihr Zuhause war eine Garage, später eine heruntergekommene Bruchbude. Gewalt stand auf der Tagesordnung, liebevolle Zuneigung gab es nicht. Lucy zog sich in die scheinbar behütete Welt der Bücher zurück, um der Einsamkeit und Trostlosigkeit zu entfliehen. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern schaffte sie auch dank des College-Besuches letztlich den Absprung in eine andere Welt. Sie verließ die Provinz jedoch nicht ohne Konsequenzen: Zwischen Lucy und ihren Eltern rissen die familiären Bande. Spätestens als Lucy eine Beziehung zu einem deutschstämmigen Mann aufbaut, schlägt ihr Ablehnung entgegen. Ihr Vater war während des Zweiten Weltkrieges als Soldat nach Europa gekommen und hatte eine große Schuld auf sich geladen, die ihn noch immer sehr belastet. In den Gesprächen zwischen Mutter und Tochter steht indes nicht die eigene gemeinsame Vergangenheit im Fokus. Vielmehr sind es die Schicksale bekannter Personen aus dem früheren gemeinsamen Umfeld. Da geht es um Trennung, Krankheit, Tod; das ganze Leben mit seinen düsteren Erscheinungen wird ausgebreitet. Die Immunschwäche AIDS und die ersten Erkrankten in den 80er Jahren, die wenig später dem Leiden erliegen, spielen eine nicht unwesentliche Rolle in den folgenden Erinnerungen, als Lucy sich in New York und in der dortigen Künstlerszene einlebt. Über die gemeinsame Zeit schweigen sich Mutter und Tochter nahezu völlig aus. In den wenigen Tagen, in denen die Mutter auch des Nachts am Krankenbett sitzt, stellt Lucy ihr nur wenige unbequeme Fragen, wie jene nach der fehlenden Liebe. Wenn die Ich-Erzählerin zurückblickt, auch auf ihr Werden als Schriftstellerin und die Begegnungen mit der eigenartigen und doch sie prägenden Autorin Sarah Payne, wird deutlich, dass jene schreckliche Kindheit und Jugend Spuren hinterlassen haben. Die Heldin ist gezeichnet von Ängsten und Zweifeln, einer tiefen Verunsicherung, auch im Umgang mit anderen Menschen. Der Bericht ihres Lebens ist Teil eines Findungsprozesses. Sein epidsodenhafter Charakter und die unterschiedlichen Zeitebenen, die sich ineinanderschieben und überlagern, geben diesem Roman Tiefe und Komplexität. Die Lebensgeschichte der Heldin und eindrucksvolle Bilder berühren zutiefst, vor allem sicherlich all jene, die eine ähnliche Erfahrung gemacht haben, die, aus einfachen Verhältnissen stammend, ihren Weg gehen, wenn auch wohl mit inneren Blessuren. Woran sich jedoch der Leser womöglich etwas stoßen wird, ist eine Redundanz, beispielsweise in den Gedanken an den rührigen und aufopfernden Arzt im Krankenhaus, die allerdings vielmehr stilistischer Ausdruck sind. Denn welche Erinnerungen sind frei von Wiederholungen, selbst wenn sie von einer schreibenden Heldin stammen.

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