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Rezensionen zu
Gehen, ging, gegangen

Jenny Erpenbeck

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Wichtiges, berührendes Zeitdokument

Von: Naibenak aus Pinneberg

20.03.2018

Richard, kürzlich emeritierter Professor für alte Sprachen und bereits Witwer, möchte in seinem neuen Dasein einen Sinn finden. Er strukturiert sein Leben durch, wohnt allein in einem großen Haus in ehemals Ost-Berlin an einem See, in dem letzten Sommer jemand ertrunken ist und noch immer nicht gefunden wird. Als er am Berliner Oranienplatz mit Flüchtlingen aus Afrika in Berührung kommt, wächst in ihm eine Idee, ein Auftrag. Fein säuberlich erstellt Richard einen Fragenkatalog, um damit zur neuerlichen Unterkunft der Flüchtlinge zu gehen und diese zu befragen. Schon bald ist Richard fast täglich dort, freundet sich mit einigen an, hört sich ihre Geschichten an und versucht zu helfen. Sein Blick ändert und erweitert sich. Und immer wieder schweift Richard in Gedanken zu seiner verstorbenen Frau und auch zur Wendezeit in Berlin, die er durchlebt hat. Zieht Parallelen zur Situation der Flüchtlinge, merkt aber bald, dass deren Vergangenheit viel komplexer ist, als er es sich je erträumt hätte. Ebenso die aktuelle Situation. Als Leser begeben wir uns in Richards Gedankenwelt, die sehr authentisch und sprachlich passend dargestellt wird. Mal sind es lange verschachtelte Gedankengänge, dann wieder unvollständige Sätze oder aber Einwortsätze. In diesen etwas ungewöhnlichen Sprachrhythmus hineinzufinden, der außerdem gänzlich ohne wörtliche Rede auskommt, hat mich einige Seiten gekostet. Dann jedoch fließt es wie von selbst. Man merkt die Entwicklung von Richard im Verlauf der Geschichte. Oft sind Gedanken zur Menschheit, zum Lebenssinn, zur aktuellen Flüchtlingssituation oder auch zu ganz eigenen Reaktionen sehr eindrücklich und berührend beschrieben. „Er ärgert sich, aber worüber eigentlich? Dass der Afrikaner nicht so glücklich und dankbar ist, wie er es von ihm erwartet? Dass der Afrikaner ihn, den einzigen Deutschen von draußen, der, wie es scheint, jemals dieses Heim hier freiwillig betritt, einfach vergisst? Vielleicht auch darüber, dass der Afrikaner nicht verzweifelt genug ist, um seine Chance zu erkennen? [...] Damals, in den Diskussionen, die der Trennung seiner Geliebten von ihm vorausgegangen waren, hatte sie mehrmals gesagt, nicht das Ausbleiben dessen, was er erwarte, sei das Problem, sondern seine Erwartung.“ (S.145) Abwechselnd mit diesen – Richards – Gedanken, die manches Mal durchaus etwas (zu) gefühlsduselig wirken, erzählen die Flüchtlinge ihre Geschichten, was wiederum sehr reduziert und telegrammartig dargestellt wird. Hier sprechen die nackten Tatsachen für sich. Aber selbst das ist teilweise an der Grenze des Erträglichen. Hinzu kommt der Bürokratiewahnsinn, der einfach nur frustriert und ebenso die allgegenwärtigen Berührungsängste der Berliner, der Hass und die Aggression, die Richard beim Durchstöbern einiger Internetforen entgegenschlagen... „ Führt der Frieden, den sich die Menschheit zu allen Zeiten herbeigesehnt hat und der nur in so wenigen Gegenden der Welt bisher verwirklicht ist, denn nur dazu, dass er mit Zufluchtsuchenden nicht geteilt, sondern so aggressiv verteidigt wird, dass er beinahe schon selbst wie Krieg aussieht?“ (S.298) Jenny Erpenbeck zieht in diesem hochaktuellen Roman einen großen Bogen über die Themen: Veränderung/Angst vor dem Unbekannten/ Erinnerung & Trauerbewältigung. In unterschiedlicher Ausprägung treffen diese Kernthemen auf alles zu: auf das Altern von Richard als Witwer im Ruhestand, auf die Wendezeit im ehemals geteilten Berlin, auf die Flüchtlingssituation. Ich hätte mir manches Mal gewünscht, dass die Autorin auch einen Blick aus einer anderen Perspektive wagt, doch will ich ihr dies verzeihen, denn dieser Roman ist meiner Meinung nach ein wichtiges deutsches Zeitdokument zum einen und außerdem eine berührende Geschichte eines alternden Mannes. Fazit: Wichtig und berührend. Schöne Stilistik. Informativ und aufrüttelnd mit guter Message.

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"Wenn eine ganze Welt, die man nicht kennt, auf einen einstürzt, wo fängt man dann an mit dem Sortieren?" (Seite 63) Richard ist seit mehreren Jahren verwitwet und seit Kurzem emeritiert. Er hat Freunde und Interessen, aber auch viel Zeit, die er versucht zu füllen. Da wird er auf einen Hungerstreik mehrere Afrikaner aufmerksam, die aus ihrer Heimat geflohen sind, in Deutschland Asyl beantragen und hier arbeiten wollen. Das Thema "Asyl" lässt Richard nicht mehr los, und schließlich geht er zu einem Treffen in einer besetzten Kreuzberger Schule und danach in die Unterkünfte der afrikanischen Flüchtlinge. Er bietet ihnen Hilfe und Unterstützung an, und nach und nach zeigen sich zwischen Richard und diesen Menschen, die auf den ersten Blick nichts mit ihm gemein haben, mehr und mehr Parallelen und Ähnlichkeiten, z.B. ein großes Interesse für Musik oder die viele Zeit, die sie alle zur Genüge zur Verfügung haben und die sie versuchen, mit einer sinnvollen Tätigkeit zu füllen. Mir hat ‚Gehen, ging, gegangen‘, das ich schon lange lesen wollte, gut gefallen, obwohl der Funke bei mir nicht ganz übergesprungen ist. Die Charakterisierung der Protagonisten und die Beschreibung der Orte haben mir gut gefallen, zumal mir einige der Berliner Schauplätze bekannt sind, so dass diese Schilderungen sehr zur Authentizität des Romans beigetragen und Spannung aufgebaut haben. Gefallen hat mir der Prozess des Verstehens und Mitfühlens, den Richard durchläuft und den damit auch der Leser begleitet: seine immer intensivere Beschäftigung mit Gegebenheiten in den Herkunftsländern der Geflüchteten, mit den Fluchtwegen und Fluchtgründen, mit dem Asylrecht und den Steinen, die Asylsuchenden von Gesetzesseite in den Weg gelegt werden. Nicht ganz gefesselt hat mich das Buch möglicherweise, weil ich Jenny Erpenbecks Schreibstil bisweilen recht sperrig fand, obwohl mich das Ende doch sehr bewegt hat und man im Buch auch viele weise Gedanken findet, die ins Schwarze treffen, z.B. "Mit Dublin II hat sich jedes europäische Land, das keine Mittelmeerküste besitzt, das Recht erkauft, den Flüchtlingen, die übers Mittelmeer kommen, nicht zuhören zu müssen." (Seite 85). Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Penguin Verlag, 2017, 347 Seiten; 10 Euro.

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Immer noch müssen Menschen aus ihrem Heimatland fliehen. Oft kommen sie nach Deutschland, in den Medien wird breit davon berichtet. Wir alle haben eine vage Vorstellung (soweit das überhaupt möglich ist) davon, wie es diesen Menschen auf ihrer Flucht ergangen ist und nun in Deutschland ergeht. Schnell werden Meinungen gebildet, ohne vielleicht jemals persönlichen Kontakt zu Geflüchteten aufgenommen zu haben. Dass aber genau diese Beschäftigung mit den konkreten Menschen und deren Schicksalen gewinnbringender ist als reiner Medienkonsum, erfährt auch Richard, der Protagonist in Jenny Erpenbecks Roman Gehen, ging, gegangen (Knaus Verlag) – ein neuer Beitrag in unserer Reihe Fluchtliteratur. Richard ist ein emeritierter Professor für Alte Sprachen, der am Rand von Berlin wohnt. Sozialisiert wurde er in der DDR, die Wende geistert immer noch in seinem Kopf herum. Seine Frau ist vor fünf Jahren verstorben, Kinder hat er keine. Frisch aus dem Unidienst entlassen, hat Richard nun alle Zeit der Welt. Diese zu füllen, fällt ihm allerdings schwer. Seine Aufgabe, Studierende zu unterrichten, fällt nun weg. Er fühlt sich nutzlos und langweilt sich. Als er eines Tages rein zufällig das Camp der Geflüchteten auf dem Oranienplatz sieht, wird er hellhörig und beginnt, sich für die Lage der jungen Männer aus Afrika zu interessieren. Eigentlich ist es kaum zu glauben, dass ein Akademiker vorher so gut wie gar nichts von der Geflüchtetenthematik mitbekommen hat. Anscheinend hatte Richard zuvor nur Augen für sein Fach. Naja. Richard recherchiert nun also und besucht die Geflüchteten, nachdem der Oranienplatz geräumt wurde, in ihrer neuen Notunterkunft, einem alten Altersheim ganz in der Nähe von Richards Haus. Der ehemalige Professor interviewt die Männer einzeln, hört sich ihre Geschichten an und freundet sich schließlich mit mehreren der Afrikaner an. Mit einigen feiert er sogar zusammen Weihnachten. Die Schicksale der einzelnen Männer gehen wirklich unter die Haut, sowohl deren Vorgeschichten als auch die schrecklichen Erzählungen von den Bootsüberfahrten von Nordafrika nach Italien. Hinzu kommen die Probleme der Geflüchteten in Deutschland. Awad, der in Ghana geboren wurde und vor seiner Flucht bei seinem Vater in Libyen wohnte, ist einer der von Richard befragten Männer: "Der Krieg zerstört alles, sagt Awad: die Familie, die Freunde, den Ort, an dem man gelebt hat, die Arbeit, den Alltag. Wenn man ein Fremder wird, sagt Awad, hat man keine Wahl mehr." Richard hört sich alles an und setzt das Gehörte immer wieder in Verbindung zur Auflösung der DDR. Wie für die Geflüchteten, die in Deutschland ankommen, war auch für die Bewohner*innen der neuen Bundesländer von heute auf morgen alles anders und oft fremd. Ich mochte diesen Vergleich in seinem Grundgedanken sehr gern beim Lesen, im Nachhinein wird er mir allerdings zu oft herangezogen. Sicherlich ist das Gefühl der Fremdheit vergleichbar und es gab auch zahlreiche Geflüchtete, die illegal von Ost nach West umgesiedelt sind. In Gehen, ging, gegangen scheint es mir aber so, als hätte Richard die Wende noch immer nicht verkraftet und würde die Geflüchteten als eine Art Therapieform benutzen, um intensiver über seine eigene Vergangenheit nachdenken zu können. Hier liegt für mich ein Manko des Romans. "Und dann sitzt Awad einen Moment lang einfach nur da, ohne etwas zu sagen, und blickt auf das unechte Holzfurnier auf der Tischplatte. Auch dieser Tisch stand vielleicht 25 Jahre zuvor in einem Büro der Volkssolidarität oder im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft […]." Richard startet seine Recherchen sehr vorurteilsbehaftet und kann sich durch persönlichen Kontakt immer mehr in die Geflüchteten hineinversetzen. Hier macht er eine vorbildhafte Entwicklung durch, er baut Vorurteile ab und schafft Vertrauen zu dem ihm Fremden. "Und auch jetzt war so ein Moment, in dem er [Richard] sich daran erinnerte, dass der Blick eines Menschen ebensogut war wie der eines andern. Im Sehen gab es kein Recht und kein Unrecht." Bei allem Interesse für die Geflüchteten bleibt Richard dabei oft bei sich. Es geht immer wieder um die Bewältigung seiner Vergangenheit, seien es die Wende, seine Eheprobleme oder der Tod seiner Frau. Wir haben es hier mit einer privilegierten, weißen Helferperspektive zu tun. Mir hat sich beim Lesen die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist, ganz uneigennützig zu helfen. Oder helfen wir auch immer, um uns selbst besser zu fühlen? Oder auch um uns selbst herauszufordern? Um uns selbst weiterzuentwickeln? Wo hören die eigenen Bedürfnisse auf, wo fangen die des hilfebedürftigen Menschen an? In diesem Sinne könnte Richards Egozentrik auch als Anspielung auf diese Fragen gelesen werden. Trotz einiger Irritationen habe ich Gehen, ging, gegangen sehr gern gelesen, nicht zuletzt auch aufgrund der klaren und durchdachten Sprache, die mich durch den Roman gezogen hat. Dies war mein erstes Buch von Erpenbeck, aber schon allein aus diesem Grund bestimmt nicht das letzte. Die Autorin schafft es, die derzeitige Situation der Geflüchteten einzufangen, reale Ereignisse aufzugreifen und diese dann in eine fiktive Rahmenhandlung zu stellen. Dabei spielt sie vor allem mit Vorurteilen gegenüber Geflüchteten, wie sie wohl in vielen Köpfen umherspuken. Der Roman bringt diese voreiligen Schlüsse zur Sprache und löst sie nach und nach auf, ohne dabei unglaubwürdig zu wirken. Die Darstellung dieses Denkprozesses, veranschaulicht in der Figur Richard, ist für mich die große Stärke des Romans. Gehen, ging, gegangen ist ein hochaktueller und wichtiger Roman, der uns zeigt, wie wichtig es ist, sowohl bei der Geflüchtetenthematik als auch in anderen zwischenmenschlichen Situationen, nicht vorschnell zu urteilen, sondern sich dem Gegenüber, sei er*sie auch noch so fremd, anzunähern.

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Image 1 of 1 Nun könnte man meinen, es ginge in dem Roman um Deutschunterricht, um Konjugationen, sicherlich am Rande ,aber eigentlich sind die Unterrichtsstunden im Heim und in einer Volkshochschule im Hintergrund präsent und Richard , ein berenteter Professor, hatte sich darin auch versucht , einen ehrenamtlichen Konversationskurs zu geben , aber eigentlich geht es um Umzüge, Aufenthaltsstatus und Demos und auch um ein Grundstück in Afrika und natürlich im Flüchtlinge. Es ist aber auch die Geschichte von einem See auf dessen Boden eine Leiche liegt , direkt vor Richards Haus und die Geschichte von zwei weniger wichtigen Einbrüchen und den Kampf einer Gruppe von Afrikanern um ihren Platz in Berlin. Zunächst vom Oranienplatz geräumt und in ein Heim gesteckt noch im Innenstadtbereich und dann nach mehreren Verzögerungen wegen Windpockengefahr nach Spandau verlegt, begleitet Richard die Gruppe mit seinen Besuchen und Fragen und bringt sich mit seiner Unterstützung selbstverständlich und immer privater ein. Richard ist von da ab stark beschäftigt , obwohl er nicht vereinsamt ist, und sorgt dafür ,dass auch andere für die Flüchtlinge aktiv werden, die ihm Stück für Stück aus ihrem Leben und von ihrem Weg von Afrika über Italien nach Deutschland erzählen. Der Professor vergisst dabei beinahe seinen Seneca und fühlt sich aber dann manchmal den Flüchtlingen seltsam nahe, gerade auch wegen seines Faches der Altphilologie, die ja auch eigentlich internationaler ist, als es manchen erscheinen mag. Jenny Erpenbeck beschreibt Richard einfühlsam und so, dass auch sein Zustand klarer wird, sein Altern , seine Veränderungen nach dem Tod seiner Frau und wie der Platz neben ihm immer noch unbesetzt geblieben ist. Ein ungemein emotionaler Roman, geschrieben lebendig , manchmal stockend und kurz angebunden und überraschend genau und verstehend. Nun ist der Roman bereits im letzten Jahr erschienen und alle wissen , dass inzwischen noch viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, aber trotzdem ist der Roman auch bei veränderter Situation wichtig, zumal es sich um hervorragende Literatur handelt und nicht nur um eine aufrüttelnde Reportage . Das Thema an sich hat noch an Brisanz zugenommen und die allgemeine Problematik ist noch sichtbarer geworden . Das Leid der Flüchtlinge ist dabei gleich geblieben. Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren , veröffentlichte ihre erste Novelle 1999, dann folgten mehrere Romane und dazu dann auch Schriftstellerpreise Joseph-breitbach preis und 2015 den Independent Foreign Fiction Prize. Bild : Knaus-Verlag Image 1 of 1 Nun könnte man meinen, es ginge in dem Roman um Deutschunterricht, um Konjugationen, sicherlich am Rande ,aber eigentlich sind die Unterrichtsstunden im Heim und in einer Volkshochschule im Hintergrund präsent und Richard , ein berenteter Professor, hatte sich darin auch versucht , einen ehrenamtlichen Konversationskurs zu geben , aber eigentlich geht es um Umzüge, Aufenthaltsstatus und Demos und auch um ein Grundstück in Afrika und natürlich im Flüchtlinge. Es ist aber auch die Geschichte von einem See auf dessen Boden eine Leiche liegt , direkt vor Richards Haus und die Geschichte von zwei weniger wichtigen Einbrüchen und den Kampf einer Gruppe von Afrikanern um ihren Platz in Berlin. Zunächst vom Oranienplatz geräumt und in ein Heim gesteckt noch im Innenstadtbereich und dann nach mehreren Verzögerungen wegen Windpockengefahr nach Spandau verlegt, begleitet Richard die Gruppe mit seinen Besuchen und Fragen und bringt sich mit seiner Unterstützung selbstverständlich und immer privater ein. Richard ist von da ab stark beschäftigt , obwohl er nicht vereinsamt ist, und sorgt dafür ,dass auch andere für die Flüchtlinge aktiv werden, die ihm Stück für Stück aus ihrem Leben und von ihrem Weg von Afrika über Italien nach Deutschland erzählen. Der Professor vergisst dabei beinahe seinen Seneca und fühlt sich aber dann manchmal den Flüchtlingen seltsam nahe, gerade auch wegen seines Faches der Altphilologie, die ja auch eigentlich internationaler ist, als es manchen erscheinen mag. Jenny Erpenbeck beschreibt Richard einfühlsam und so, dass auch sein Zustand klarer wird, sein Altern , seine Veränderungen nach dem Tod seiner Frau und wie der Platz neben ihm immer noch unbesetzt geblieben ist. Ein ungemein emotionaler Roman, geschrieben lebendig , manchmal stockend und kurz angebunden und überraschend genau und verstehend. Nun ist der Roman bereits im letzten Jahr erschienen und alle wissen , dass inzwischen noch viel mehr Flüchtlinge nach Deutschland gekommen sind, aber trotzdem ist der Roman auch bei veränderter Situation wichtig, zumal es sich um hervorragende Literatur handelt und nicht nur um eine aufrüttelnde Reportage . Das Thema an sich hat noch an Brisanz zugenommen und die allgemeine Problematik ist noch sichtbarer geworden . Das Leid der Flüchtlinge ist dabei gleich geblieben. Jenny Erpenbeck wurde 1967 in Berlin geboren , veröffentlichte ihre erste Novelle 1999, dann folgten mehrere Romane und dazu dann auch Schriftstellerpreise Joseph-breitbach preis und 2015 den Independent Foreign Fiction Prize. Bild : Knaus-Verlag

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Richard ist ein emeritierter Professor. Seine Universitätskarriere liegt hinter ihm, seine Frau ist bereits gestorben, Kinder hat er keine. Was tun mit all der Zeit? Als er eines Tages auf dem Oranienplatz Asylsuchenden begegnet, macht er diese zu seinem neuen Projekt. Er fragt sie, was sie dazu veranlasst hat, in Deutschland Asyl zu suchen. Und bekommt ergreifende Geschichten erzählt. „Gehen, ging, gegangen“ ist ein Roman, der die Schicksale einzelner Flüchtlinge zu seinem Inhalt macht, außerdem den Irrsinn von Dublin II aufzeigt und den Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit vor Augen führt. Bruchstückhaft erzählen die Flüchtlinge, von dem Grauen, das sie erlebt haben. Dabei verändert sich Richards Sichtweise auf sein eigenes Leben – und auf die Welt, wie er sie kennt. „Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder entdecken, wie viele Verkleidungen abreißen, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus? Seine – oder die eines anderen?“ S. 177 Jenny Erpendecks Schreibstil ist außergewöhnlich. Manche Sätze sind kurz und abgehackt, andere verschachtelt, außerdem arbeitet sie mit vielen Wiederholungen. Dadurch übermittelt sie viel Gefühl und fasst viele tiefgehende Gedanken in Worte – aber eindrucksvolle Szenen lesen sich auch stellenweise langweilig und das Lesen erfordert Konzentration. Ab der Mitte des Buches zieht sich die Geschichte zudem ein wenig in die Länge. Aber was mich am meisten gestört hat: Auch wenn sich Richard sehr samariterhaft den Flüchtlingen gegenüber verhält, fand ich sein Verhalten Frauen gegenüber nahezu sexistisch. Deswegen habe ich den Protagonisten eher kritisch beäugt. Trotzdem: Erpenbecks Roman ist ein wichtiger Roman in unserer Zeit, der besonders den afrikanischen Flüchtlingen eine Stimme gibt. Bewertung: 4 von 5 Sternen Empfehlenswert für: Wer sich für Asylpolitik und Flüchtlingsschicksale interessiert sowie für die Zustände in afrikanischen Ländern Handlungsorte: Berlin, Die erzählerischen Rückblenden spielen in mehreren afrikanischen Staaten, z.B. Ghana und Libyen

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Warum flieht man aus Nordafrika und riskiert sein Leben? Wie erträgt man danach Europas Kälte? Jenny Erpenbecks Roman "Gehen, ging, gegangen" gibt Antworten und ist eine Kur für Unbedarfte und besorgte Bürger. Gehen, ging, gegangen schaffte es 2015 bis auf die Shortlist für den Preis der Frankfurter Buchmesse. In der Regel gibt es um die Kandidatenliste eine Saison lang rege Debatten, danach wird es um sie still. Nicht still wird es um das unappetitliche Gemisch aus Fremdenfeindlichkeit und Hass, das rechte Populisten und Parteien zur Zeit in Deutschland schüren. Aus diesem Anlass sei an Erpenbecks Roman erinnert, der über die Saison hinaus Bestand haben soll. Um Flüchtlinge geht es, um Fluchtgründe und Nordafrika, das Berliner Protestcamp und was draus geworden ist. Der Text referiert eine Fülle von Material, arbeitet es um in Literatur. Es ist die fiktionale Form, die Hetzern und Verhetzten den toxischen Begriff von der "Lügenpresse" aus dem Mund nimmt. Immun gegen ihr Leugnen ist der Roman, der nichts anderes als seine Fiktionalität behauptet und den Diskurs auf dem Feld der Literatur führt. Immun ist er als Geschichte auch gegen die Empathieschwäche jener Großstatistiker, die sich – auch so ein Brandsatz – "nicht von Kinderaugen erpressen" lassen wollen. Erpenbecks Protagonist wirft für seine Sache den ganzen Habitus eines erfahrenen Akademikers in die Waagschale: Richard, Professor für alte Sprachen, verwitwet und frisch pensioniert, steht an einem Scheidepunkt seines Lebens. Er richtet sich, des beruflichen Alltags beraubt, in dürftiger Routine ein und ihm ist klar, dass das nicht reicht. Beinahe zufällig gerät er in das Umfeld des Refugee-Camps auf dem Berliner Oranienplatz und in Kontakt mit den Flüchtlingen, die dort ausgeharrt hatten. Von Anfang an sind es die Betroffenen, nicht Dritte, die zu ihm sprechen. Richard, der, in der DDR sozialisiert, immer noch mit seiner Rolle als Mittelschichts-Bundesbürger fremdelt, wird ein surrealistisch naiver Blick mitgegeben, der lupenartig auf alles fällt, was mit den Flüchtlingen zu tun hat. Konsequent werden seine Kontaktpersonen so als Individuen aufgebaut, inklusive aller Unsicherheiten und Missverständnisse, die durch die mehrsprachig unvollständige Kommunikation entstehen. Der bald zum Helfer gewordene Beobachter hilft bei Behördenkommunikation und Arztgängen, lädt einige der Männer in sein Haus ein und lernt sie kennen. Im Zuge der Ereignisse begreift man den Nervenkrieg, den ein Leben ohne sicheres Bleiberecht in Europa bedeutet. Am Ende erfahren einige der Männer die vorübergehende Duldung und kommen in Richards Haus und bei seinen Freunden unter. Ihr weiteres Schicksal – es gibt kein Happy End, wenn man durch die halbe Welt geflohen ist – bleibt offen. Sicher ist nur die nachhaltige Entwurzelung der Geflohenen, der auch das zwangsläufig vorübergehende Atemschöpfen unter Richards Dach nicht wirklich abhilft. Literarisch stark in ihren kürzeren Texten, setzt Erpenbeck mit ihrem Protagonisten eine einzelne wahrnehmende Instanz zum Vermitteln des Geschehens ein. Virtuos gelang ihr das bereits früher, zum Beispiel 2005 in Wörterbuch. Dort lässt sie den Spross einer Diktaturen-Elite aus der Position scheinbar äußerster Unschuld Mechanismen der Unterdrückung schildern. In Gehen, ging, gegangen wird man durch diesen pädagogischen Impetus auf immerhin 350 Seiten etwas überdeutlich an die Hand genommen. Nicht immer kauft man dem gestandenen Wissenschaftsveteran ab, tatsächlich so unbeleckt und ohne Vorbehalt zu sein. Es hilft nichts: Man muss mit Richard durch einen Plot in einfacher Sprache und neben einer gewissen Rührseligkeit ist dieses konsequente Sich-dumm-Stellen eine Schwäche des Textes. Dem subjektiven Eindruck mag man entgegnen, dass der Roman ein breites Publikum erreichen will und sich nicht intellektuell eitel spreizt. Etwas weniger kitschverdächtiger Dekor hätte an mancher Stelle aber auch gereicht. Erpenbecks lakonische Poesie entfaltet sich trotzdem auch in Gehen, ging, gegangen, in Tableaus und starken Bildern, in dem offenen Ende, das die Ereignisse auf eine überzeitliche Ebene stellt. Der in den Medien sichtbare Flüchtlingsdiskurs blitzt exemplarisch immer wieder auf, in vom Protagonisten gelesenen Medien oder in Gesprächen. Diese Quellen werden von Richard, so naiv ist er dann nämlich nicht, subtil kommentiert und kritisch bewertet. Dabei sagt er wenig, sondern lässt die Ignoranz sich selbst entlarven, zum Beispiel, wenn seine Freunde aus dem Italienurlaub Fotos von sich prostituierenden Flüchtlingsfrauen mitbringen und diese plaudernd als Exotismus neben die üblichen Sehenswürdigkeiten stellen. In fabelartigen Episoden werden Lebenshintergründe der Flüchtlinge sichtbar. Sie mischen sich ansatzlos mit Betrachtungen über die Last unausgefüllter Zeit (in einem zerrütteten Land ebenso wie in einer deutschen Notunterkunft), über unsere chauvinistische Trennung von westlicher und restlicher Welt, über den Kulturverlust, den Verjagte und Verstoßene erleben und der sich durch Anfängerdeutschkurse nicht im Ansatz heilen lässt. Aus der Heimat gegangen sind die Männer, die Richard kennenlernt, in Bewegung bleiben sie nun zwangsweise. Sie werden herumgereicht zwischen Zuständigkeiten der Länder, von denen keins sie wirklich aufnehmen will. Sie sind gelähmt durch Europas vorsätzlich widersprüchliche Gesetze und mundtot gemacht durch die fehlende Kenntnis der sich verschließenden Sprachen. Erpenbeck setzt an dieser Stelle an und leiht denen im Limbus wirkungsvoll ihre verdichtende, literarische Stimme. Und so dämmert es nicht nur Erzähler Richard in einem Tableau, in dem die Autorin Kolonialrassismus und dessen Opfer mit ihren oralen Kulturen pointiert kollidieren lässt: "…noch nie ist ihm der Zusammenhang zwischen Raum, Zeit und Dichtung so klar gewesen wie in diesem Moment." Etwa in der Mitte des Textes gibt es einen Bruch, nach aller Annäherung von außen ist es nun einer der Geflohenen, aus dessen Perspektive ein Besuch des "älteren Herrn" erzählt wird. Erst nach dieser Verschiebung formuliert der Erzähler seine Erkenntnis vom zyklischen Austausch der Menschen und Kulturen: "Tausende von Jahren dauert die Bewegung der Menschen über die Kontinente schon an, und niemals hat es Stillstand gegeben. Es gab Handel, Kriege, Vertreibungen […], es gab Verfall, Verwandlung, Wiederaufbau und Siedler, es gab bessere oder schlechtere Wege, aber niemals Stillstand." Unwillkürlich denkt man hier an Sebalds Ringe des Saturn und das Bild vom erbarmungslos fortrasenden Planeten, auf dem beständig Menschen schlafend niederfallen. Ebenfalls an Sebald erinnert Richards Gedanke, dass die von den Nazis ermordeten Menschen "Deutschland als Geister noch immer bewohnen, all die Fehlenden und auch deren ungeborene Kinder und Kindeskinder", Richard sieht sie "unsichtbar in den Cafés, […] Parks und Theater". An die sebaldsche Kunst des Streifens durch eigene und fremde Erinnerungen reicht das alles bei weitem nicht heran. Doch auch ohne diesen Anspruch funktioniert der Plot ausgezeichnet. Fazit: Vielleicht nicht Erpenbecks stärkster Text, ist Gehen, ging, gegangen über die Halbwertzeit der Buchpreisnominierung hinaus von Wert. Seine Emphase ist nicht immer Ersatz für intellektuelle Schärfe, über die die Autorin sehr wohl verfügt. Auf der anderen Seite präsentiert der Text viele Details zur Situation der Geflohenen in Europa, die anders kaum zu fassen sind. Bestürzend unfair, stellt man fest, ist der Umgang mit den Protestierenden vom Oranienplatz, ungerecht auch das juristische Gemauschel um die zwischen Erstaufnahmeland und Deutschland Zwangspendelnden. Beispielgebend ist der im Buch beschriebene Umgang mit den denen, die im fremden Europa davon abhängen, dass ihnen eine Hand gereicht wird. Nicht jeder wird es nach der Lektüre dem Protagonisten gleichtun und sich mit Flüchtlingen vor Ort befreunden. Von Fremdenhass und Ignoranz Verheerte erreicht Gehen, ging, gegangen sicher nicht. Vielen Besorgten und Unsicheren aber täte die Lektüre dieses Romans gut, der ein Verständnis für die Menschen fordert, die aus Zeit und Kultur gefallen, in Turnhallen und Zelten auf nichts mehr als ein Leben warten. Britta Peters Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen. Roman. Knaus, 2015. 19,99 €, E-Buch 15,99 €.

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In ihrem neuen Roman “Gehen, ging, gegangen” arbeitet Jenny Erpenbeck die Besetzung des Berliner Oranienplatzes durch eine Gruppe afrikanischer Flüchtlinge literarisch auf. Sie tut dies indem sie der Leserin einen Vermittler zur Seite stellt, der als Brücke zwischen der durchschnittsdeutschen Alltagswirklichkeit und der Lebenswelt eines Flüchtlings fungiert. So fängt die Geschichte damit an, dass der leidenschaftliche Ostberliner Richard, seines Zeichens Universitätsprofessor in beiden Systemen, in Rente geht und beschließt in all der freien Zeit, die er nun hat, Haus und Garten in Ordnung zu bringen. Seit dem Tod seiner Frau ist einiges liegen geblieben, doch so einfach kann sich der immer noch rüstige Neu-Rentner nicht aufrappeln. Immer wieder schweift sein Blick zum See an dem sein Haus liegt, denn dort ist vor kurzem ein Mann ertrunken. Eigentlich spielt diese Tragödie keine wirkliche Rolle im weiteren Verlauf des Romans. Doch sie stellt den Stein des Anstoßes dar, den Tritt der Richard aus seinem Haus am Rande Berlins in die Innenstadt befördert, wo er auch am Oranienplatz vorbei kommt. Zunächst übersieht er sie, wie sie dort sitzen, eine Fülle fremder Sprachen sprechen und doch keinem der anwesenden Polizisten sagen können oder wollen, wer sie sind und woher sie kommen. Bald jedoch wird Richard ihrer Gewahr und es zieht ihn erst zum Oranienplatz, wo die Flüchtlinge mit der Zeit eine Zeltstadt aufgebaut haben, und dann in ein ehemaliges Altersheim, in dem die Stadt Berlin die Männer kurzfristig untergebracht hat, bis geklärt ist, wer überhaupt für sie zuständig ist. Richard besucht sie, einen nach dem anderen – auch wenn ihn die Wachleute und Betreuer bald schon für ein bisschen verrückt halten. Denn sein Engagement scheint ein Einzelfall innerhalb der deutschen Bevölkerung zu sein. Jenny Erpenbeck ist in ihrer Schilderung der Beweggründe des afrikanischen Durchschnittsflüchtlings sehr großzügig und wohlmeinend. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die sich aus im Grunde friedlichen aber bettelarmen Staaten nach Europa durchkämpfen, in der Hoffnung dort Arbeit zu finden und die Familie daheim unterstützen zu können, gibt es in “Gehen, ging, gegangen” nicht, was meiner Meinung nach eine grobe Vereinfachung des Themas darstellt. Die von der Autorin entworfenen Portraits der jungen Männer sind vielfältig und feinfühlig. Fast alle kamen sie über Italien, fast alle müssen sie dorthin zurück, so zumindest fordert es das Gesetz. Selbst als eher kritische Leserin entwickelte ich im Laufe der Lektüre Empathie für die Situation der Orianienplatzflüchtlinge, wenn nicht sogar Verständnis für ihr Verhalten. Das persönliche Engagement von Hauptfigur Richard, das in manch einem Fall bald schon das Fundament einer tiefen Freundschaft legt, dient der Leserin dabei als roter Faden, der sich durch das Buch spinnt, die Lebensgeschichten der Flüchtlinge miteinander verbindet, die verschiedenen Figuren und Aspekte der Erzählung zusammen hält und sie zu einem in sich stimmigen Ganzen macht. Der Erzählstil von Autorin Jenny Erpenbeck ist dabei schnörkellos und derart eingängig, trotz des oft schwer verdaulichen und innerlich aufwühlenden Themas, man könnte ihn fast schon unauffällig nennen. Jedenfalls tritt Jenny Erpenbeck sprachlich innerhalb der Erzählung einen Schritt zurück und überlässt die eigentliche Bühne den Flüchtlingsschicksalen und Hauptfigur Richards Gedanken dazu, bzw. seinen Integrationsversuchen, ob es sich dabei nun um Klavierunterricht, etwas Gartenarbeit oder einen Platz zum Schlafen handelt. Insgesamt ist “Gehen, ging, gegangen” ein gut durchdachter, dabei aber auch sehr kopflastiger Roman zu einem Thema, das uns alle etwas angeht. Jenny Erpenbeck macht ihrer Leserin den Kopf auf für die oft verzweifelte und dabei aber leider auch hoffnungslos komplizierte Situation afrikanischer Flüchtlinge, für deren Geschichten und Zukunftsträume, wenn sie sich diese nach der gefährlichen Reise, italienischer Obdachlosigkeit und dem Tauziehen um europäische Zuständigkeiten denn noch bewahrt haben. Gleichzeitig zeichnet Jenny Erpenbeck ein realistisches, wenn auch oft frustrierendes, Bild europäischer Asylrechtsbürokratie. “Gehen, ging, gegangen” ist somit ein ernstes Buch, das seine Leserin zu Empathie anregt, dabei aber auch immer wieder anheimelnde Momente hervorbringt und demnach nie zu trist oder gar zu trocken wird.

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Ich bin beständige Leserin der Romane Erpenbecks und das aus gutem Grund. Die beiden zuletzt erschienenen "Aller Tage Abend" und "Heimsuchung" sind unbedingt empfehlenswert. Mit "Gehen ging gegangen" wählte sie eine Thematik, die zur Zeit stark im Brennpunkt steht(mehr, als zum Zeitpunkt des Entstehens absehbar war). Inwiefern das die Jury des Deutschen Buchpreises beeinflusst wird sich zeigen. Der Hauptprotagonist Richard ist pensionierter Professor, hat sich immer mit Sprache und philosophischen Themen auseinandergesetzt. Nun lebt er allein im eigenen Haus am See im Berliner Osten, seine Frau ist seit einigen Jahren tot. Er hat nun Zeit. Als er zufällig vom Protest afrikanischer Flüchtlinge hört und diese im Zeltlager auf dem Oranienplatz sieht, beginnt er über die Hintergründe zu recherchieren und Kontakt aufzunehmen. Anfangs hofft er, durch gezielte Fragen an die Flüchtlinge, existenzielle Antworten zu erhalten, die ihm selbst gerade fehlen. Letztlich geht es um den Sinn... Das Warten auf das was noch kommt im Leben und die verordnete Untätigkeit, sowie die Erinnerung an die Zeit, als er selbst plötzlich von einem auf den anderen Tag in einem neuen Land lebte. es die DDR nicht mehr gab, sind zunächst die einzigen Übereinstimmungen. Aber es entwickelt sich anders: So erfährt er nach und nach über die traumatischen Fluchten und die Lebensumstände der jungen Männer, die aufgrund der Verhältnisse im jeweiligen Land nicht bleiben konnten oder durften, aber hier nur "geduldet" sind, und langsam baut sich gegenseitiges Vertrauen auf, entwickeln sich Freundschaften. Richard hilft, wo und wie er kann, hört zu, begleitet die Männer zu Behörden, zum Anwalt oder zum Sprachunterricht, setzt sich auf seine Weise für sie ein, für die, die "unsichtbar" sind, und gewinnt dadurch selbst wieder einen klareren Blick auf die Realität. "Vieles von dem, was Richard an diesem Novembertag, einige Wochen nach seiner Emeritierung, liest, hat er beinahe sein ganzes Leben über gewusst, aber erst heute, durch den kleinen Anteil an Wissen, der ihm nun zufliegt, mischt sich wieder alles neu. Wie oft wohl muss einer das, was er weiß, noch einmal lernen, wieder und wieder, bis er die Dinge wirklich versteht bis auf die Knochen? Reicht überhaupt eine Lebenszeit dafür aus?" Je mehr er jedoch erfährt über die Irrwege, über die bürokratischen, wenig flexiblen Gesetze, desto mehr wird Ihm klar, wie schlecht die Chancen für Flüchtlinge stehen, wie begrenzt auch seine eigenen Möglichkeiten sind. Dennoch will er nicht aufgeben. Er organisiert private Unterkünfte bei seinen alten Freunden und auch sein eigenes Haus füllt sich...neue Räume öffnen sich. Auffällig fand ich, die durch den ganzen Text hinweg oft wiederholten Sätze, was wahrscheinlich eindringlich wirken soll, mich aber eher gestört hat. Auch mit dem Schluss bin ich nicht ganz zufrieden, kommen doch da seitens Richard wichtige emotionale Erlebnisse zutage, die dann aber nicht den nötigen Raum mehr finden. Fazit: Ich bin der Meinung, dass es nicht Erpenbecks bestes Buch ist(siehe oben). Dennoch habe ich "Gehen ging gegangen" als ein besonderes und wichtiges Buch erlebt. Und ich denke, das könnte vielen Lesern so gehen...

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