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Rezensionen zu
Herbst

Ali Smith

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edes Buch hat es verdient, mit voller Aufmerksamkeit gelesen zu werden. Dieses hier musste eine kleine Ewigkeit darauf warten, aufgeschlagen zu werden. Umso besser, denn: Passend zum Oktober-Start habe ich mit Ali Smiths „Herbst“ begonnen und es binnen von 2 Tagen nahezu atemlos durchgelesen. Dieser außergewöhnliche Roman hat mein Denken so sehr eingenommen, dass ich mich tatsächlich rhetorisch fragen musste: Kann diese Art von Literatur jemals übertroffen werden? Akutes Fazit: Nur allzu schwer. Denn wer Gegenwart in solcher Weise mit Literatur verschränkt, kann nur die Führung der literarischen Disziplin ‚Realitätsdurchdringung‘ inne haben. „Herbst“ ist der erste Band der Jahreszeiten-Quadrologie von Ali Smith, der - so möchte ich es lesen - eine tragisch schöne Geschichte über eine unmögliche Liebe thematisiert. Elisabeth ist Anfang 30 als wir sie als Kunst-Dozentin kennenlernen, die eine außergewöhnliche Beziehung zu Daniel Gluck pflegt. Daniel hingegen ist - das erfahren wir etwas später im Roman - 101 Jahre alt als er in einem Pflegeheim tagelang schlafend auf den Tod wartet. Zwischen diesen Figuren spinnt sich eine interessante Handlung zusammen, die vor dem Hintergrund des Brexit übergeordnete Fragen nach der ‚Zeit‘, dem Altern, der Kunst und der Sinnsuche behandelt. Elisabeth ist ein kleines Mädchen, als sie ihren Nachbarn Daniel kennenlernt - dieser selbst Kunstliebhaber und -sammler eröffnet dem neugierigen Mädchen die Welt der Literatur und Intellektualität. Die sich - und das ist eine der Kernaussagen des Romans - vor allem in der Etablierung eines eigenen Sehens der Welt ausweist. Elisabeth lernt mit den Geschichten, den der alte Daniel ihr bei langen Spaziergängen im Feld erzählt, autonomes Denken und das Versprachlichen eigener Ansichten, Eindrücke und Wünsche. Natürlich fragt man sich die ganze Zeit über, was es mit dieser Beziehung auf sich hat, die Elisabeths Mutter zwischenzeitlich sogar verbieten will, weil ‚komisch‘. Und keine Frage: Ab und an scheinen Momente einer tief verborgenen Sinnlichkeit auf, die vor allem von Elisabeth ausgehen, die sich vielleicht nur nach einem Vater sehnt, den sie in der Kindheit nie gehabt hat, bis sie einen Traum, den sie neben Daniels Pflegebett träumt, ausspricht: „Mit Daniel schlafen, so ist das also.“ Wie der Roman ausgeht oder ‚wohin‘ er generell geht - das ist gar nicht so einfach zu greifen. Aber gerade von dieser Undurchsichtigkeit und Vagheit lebt jede Zeile dieses besonderen Romans, der für mich nur eines zum Ziel haben kann: Die Offenlegung diverser Denkansätze, die dazu führen, Gegenwart und Vergangenheit als zwei Ereignisse zu verstehen, die sich stets bedingen, sich gegenseitig beleuchten und erklären, voneinander schöpfen und einander formieren. Damals und jetzt. Danke an den wunderbaren Luchterhand Verlag für dieses Rezensionsexemplar!

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Herbst

Von: Bearnerdette

27.05.2020

Herbst von Ali Smith habe ich im Rahmen einer Leserunde mit einigen anderen Bloggern gelesen. Was soll ich sagen, ich bin schwer begeistert von diesem zeitgenössischen Roman, der so viel in sich vereint. Aber zunächst zur Story: Elisabeth besucht Mr Gluck im Altersheim. Der inzwischen über 100 Jahre alte Herr war früher ihr Nachbar und wurde ein guter Freund, doch dann riss der Kontakt ab. Jetzt schläft er die meiste Zeit, während die Mitt-Dreißigerin Elisabeth an seinem Bett sitzt und liest. Als Leser wechseln wir zwischen Vergangenheit und Gegenwart, erleben mit wie sich die Freundschaft zwischen den beiden entwickelte und sehen, wie es Eilsabeth heute geht. Der Roman streift viele interessante Themen, behandelt den Brexit, das gegenwärtige politische Kima in England, erzählt aber auch die faszinierende Geschichte der Pop Art Künstlerin Pauline Boty. Mit einer kunstfertigen Leichtigkeit taucht Smith in diese Themen ein, streift sie oder vertieft sich, bringt aber in jedem Fall die Stimmung der Figuren rüber. Ein Buch mit Tiefgang, was sich aber weder schwermütig noch schwerfällig liest. Smiths Schreibstil verleiht dem Buch Leichtigkeit und Poesie. Herbst ist der erste Teil eines Vierjahreszeiten Quartetts. Ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Teil. Das Buch ist bei Luchterhand erschienen.

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That’s the thing about things. They fall apart, always have, always will, it’s in their nature. Herbst ist der erste Band des Jahreszeiten-Quartetts der britischen Autorin Ali Smith. Im Herbst 2016 ist Daniel ein Jahrhundert alt. Elisabeth, Anfang 30, kennt ihn von früher, der Nachbar hat sie als Kind mit der Kunst bekannt gemacht. Jetzt besucht sie ihn im Altersheim, liest ihm Bücher vor und fragt sich, was die Zukunft bringen mag. Denn England hat einen historischen Sommer hinter sich, die Nation ist gespalten, Angst macht sich breit. Der erste Roman aus Ali Smiths Jahreszeitenquartett erzählt von einer Welt, die immer abgeschotteter und exklusiver wird, über das Wesen von Reichtum und Wert, über die Bedeutung der Ernte. Und er erzählt vom Altern, von der Zeit und von der Liebe. Von uns. Mit ihrem einzigartigen und humorvollen Schreibstil, triefend vor politisch- und gesellschaftskritischer Aussagen, thematisiert Ali Smith die Auswirkungen des Brexit auf der britischen Halbinsel, ohne ihn jemals namentlich zu erwähnen. Doch mag er noch so bedeutungsvoll sein, spielt er nur eine Nebenrolle in der emotionalen Beziehung von Daniel Gluck und Elisabeth. Der Aufbau der Geschichte ist fantastisch konstruiert, so wechselt der Erzählrhythmus ständig zwischen der Gegenwart, der Vergangenheit und den von Ovids Metamorphosen inspirierten Traumgeschichten sowie den Ursprüngen der Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty. Obgleich die Stränge unwillkürlich erzählt zu sein scheinen, haben sie doch alle einen gemeinsamen Ursprung, den der Leser ergründen soll. Das Buch hat mich aufgrund seines genialen Schreibstils und der tragisch-emotionalen Beziehungsstränge beeindruckt und bewegt. Wahrlich keine leichte Kost, lohnt es sich aber, Zeit für den Inhalt und die Geschichte zu nehmen. Vielen Dank an den Luchterhand-Verlag für das Rezensionsexemplar.

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Der Luchterhand Verlag schafft es langsam aber sicher, sich in mein Herz zu stehlen. Fast alle Bücher, die ich in letzter Zeit aus diesem Verlag gelesen habe, waren entweder ein Volltreffer oder mindestens 4-Sterne wert. Der Schreibstil der britischen Autorin Ali Smith ist einzigartig und originell. Herbst ist das erste Buch aus ihrem „Jahreszeitenquartett“ und ich kann es kaum erwarte, drei weitere Bücher dieser Art zu lesen. Ein Thema überschattet die Handlung des Buches: Der Brexit. Namentlich nie erwähnt, aber seine Folgen sind klar erkennbar. Das was er mit der Insel macht, wirkt hier deutlich dramatischer und regt so zum denken an. Neben den tollen politischen und geselschaftskritischen Aussagen kann „Herbst“ aber auch mit einer sehr emotionalen Geschichte überzeugen. Die Beziehung der Protagonistin zu Daniel ist zauberhaft und berührend. Das Verhältnis von Elisabeth zu ihrer Mutter ist da ganz anders, aber trotzdem sehr faszinierend. Die Beziehungsgeflechte waren hier ein echtes Highlight. Aber auch inhaltlich konnte mich dieser Roman mit seiner Komplexität und seinem Sprachgefühl überzeugen. Was mir ganz besonders gefallen hat wie die Liebeserklärung der Protagonisten an Bücher und das Lesen. Denn diese spielen in der Geschichte eine große Rolle. Gleichzeitig wird so clever eine Apell an das eigenständige und unabhängige Denken vermittelt. Ich kann euch diesen Reihenauftakt von Ali Smith nur empfehlen. 5/5 Sterne

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Überall wird der gerade auf Deutsch erschienene Roman „Herbst“ von Ali Smith als der „erste Brexit-Roman“ gefeiert. Und tatsächlich begann die schottische Autorin 2016 kurz vor dem Referendum mit der Niederschrift und in der Absicht, einen ganz zeitnahen Text zu verfassen. „Autumn“ erschien dann auch bereits im selben Jahr und platzierte sich 2017 auf der Shortlist zum Man Booker Prize. Ein wenig von dieser Aktualität und Dringlichkeit ging durch die drei Jahre, die die Übersetzung ins Deutsche nun dauerte, verloren. Das schadet aber nicht sehr, denn die Gedanken zu den politischen Veränderungen in Großbritannien, die Hinwendung zu mehr Egoismus, sozialer Kälte, zum Errichten von Grenzen jedweder Art und zum raueren Klima, das seitdem in der britischen Gesellschaft herrscht, bilden nur einen Aspekt des komplexen Romans. Auch wenn dieser sehr stark und leidenschaftlich ausgeführt wird. „Ich habe die Nachrichten satt. Ich habe es satt, wie manches künstlich zu etwas Spektakulärem aufgebläht wird, das es nicht ist, und anderes, wirklich empörende Dinge, grob vereinfacht wird. Ich habe die Giftigkeit satt, den Zorn, die Niedertracht, den Egoismus. Und am meisten habe ich satt, dass wir nichts unternehmen, damit das aufhört.“ Geplant und angelegt hat Ali Smith „Herbst“ als den ersten Text eines Jahreszeiten-Quartetts und im Original sind bereits „Winter“ und „Spring“ erschienen, „Summer“ für 2020 angekündigt. „Herbst“ ist, wenig verwunderlich, ein Roman des Abschieds, der leisen Trauer, des Alters, aber auch einer der Verwandlungen – Ovids „Metamorphosen“ spielen nicht zufällig eine Rolle – und der Hoffnung. Er ist bei aller Zugänglichkeit ein hoch kunstvoller, vielgestaltiger und auch experimenteller Text. Es beginnt mit einer jener traumartigen Episoden, die immer wieder auftauchen. Hier wird ein „alter, alter Mann“ an ein Ufer angespült, begegnet einem Reigen tanzender Mädchen, während tote Menschen am Strand liegen und Urlauber sich sonnen, fühlt neue Lebenskraft in sich aufsteigen und verwandelt sich schließlich in einen Baum. Diese Traumsequenzen erweisen sich bald als Bewusstseinsströme eines sterbenden, 101 Jahre alten Mannes, Daniel Gluck. An seinem Krankenhausbett sitzt viele Stunden eine junge Frau, liest, liest ihm vor, spricht mit dem Bewusstlosen, in einem tiefen, langen Schlaf Gefangenen. Als zehnjähriges Mädchen wurde Elisabeth Demand die Nachbarin von Daniel Gluck. Die alleinerziehende und nicht sehr fürsorgliche Mutter hatte wenig Zeit und Geduld mit ihrer Tochter. Damals gab ihr der bereits hochbetagte, aber noch erstaunlich rege Nachbar Halt und führte sie ins eigenständige Denken und in die Kunst und Literatur ein. „Was liest du gerade?“ war eine ihrer Begrüßungsfloskeln. Und auch „Herbst“ ist voller Referenzen an Bücher, Autoren, bildende Künstler. Ovids „Metamorphosen“ liest Elisabeth am Krankenbett. Und wie die Natur sich im Herbst wandelt, macht auch Daniel in seinen Träumen oft eine Verwandlung durch. Meist allerdings in eine entgegengesetzte Richtung, hin zu vergangener Jugend. So wird er beispielsweise zu einem ergrünenden Baum, in den er sich eingeschlossen fühlt. Was wieder auf eine andere Bezugsgröße hinweist, auf Shakespeare. Der Luftgeist und Gestaltwandler Ariel ist in dessen Stück „Der Sturm“ ebenfalls zu Beginn in einem Baum eingeschlossen, aus dem ihn der Zauberer Prospero befreit. Eines der dem „Herbst“ von Ali Smith vorangestellten Mottos stammt aus „Der Sturm“. Der Sturm als Herbstmotiv. Und William Shakespeares Märchen- und Zauberdramen als Inspiration für die Traumsequenzen im Roman. Ein drittes literarisches Werk, auf das Smith Bezug nimmt, ist Charles Dickens „Eine Geschichte aus zwei Städten“. Von diesem während der französischen Revolution in Paris und London spielenden Roman kann man einen Brückenschlag zu den „revolutionären“ Veränderungen in Großbritannien herstellen, aus ihm stammt auch der (leicht veränderte) Anfangssatz: „Es war die schlechteste, es war die schlechteste aller Zeiten.“ Mit der kritischen Stellungnahme zum Brexit und den verschiedenen literarischen Referenzen ist es aber noch nicht genug. Durch einen persönlichen Bezug – Daniel, der Liedtexter war einst in sie verliebt – erzählt Ali Smith noch von der britischen Pop-Art-Künstlerin Pauline Boty und ihrem traurigen Schicksal. Gleichzeitig thematisiert sie über eines der Werke Botys den Skandal um Christine Keeler. Diese war ein britisches Model und unterhielt 1963 gleichzeitig eine Affäre mit dem britischen Kriegsminister John Profumo und dem sowjetischen Marineattaché Jewgeni Iwanow, was schließlich zum Sturz der britischen Regierung führte. Reichlich Stoff für einen nicht allzu umfangreichen Roman. Dazu kommt der Wechsel der Zeitebenen zwischen Erzählgegenwart und Erinnerungen und dem nebligen inneren Erleben Daniels. Es erstaunt und zeugt von großer Könnerschaft, dass sich das Ganze so problemlos und mit Genuss lesen lässt. Letztlich entscheidet die Leserin, welchen Fährten sie folgen mag. Brexit-Roman oder Meta-Erzählung? Politisches Statement gegen das Errichten neuer Grenzen und für die Vielgestaltigkeit des Lebens oder zarte, poetische Erzählung über das Abschiednehmen von einem geliebten Menschen? Oder eben alles zusammen. Ali Smiths Erzählen ist sowohl politisch als auch hochpoetisch. Sie liebt Sprache und Wortspiele, und das ist auch in der Übersetzung von Silvia Morawetz noch deutlich zu spüren. „Sprache ist wie Mohnblumen. Sie nimmt etwas und wühlt die Erde drum herum auf, und schon kommen schlafende Wörter zum Vorschein und werden, leuchtend rot und frisch, überallhin verweht.“ Das Ende ist geradezu hoffnungsvoll. Aber da schrieb man ja auch noch das Jahr 2016. Vieles sieht heute düsterer aus als damals. Mit großer Spannung darf man die Folgebände erwarten, die ja eigentlich ins Lichte führen müssten, in den Frühling, den Sommer. „Die Bäume zeigen ihre Wuchsformen her. Ein feiner Brandgeruch liegt in der Luft. Alle Seelen streunen und marodieren. Aber es gibt Rosen, noch gibt es Rosen. Trotz Feuchte und Kälte ist an einem Busch, der bereits abgeblüht aussieht, eine Rose weit geöffnet, noch. Sieh dir die Farbe an!“

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Wer hier ab und zu mitliest, der weiß vielleicht, dass ich die Britin Ali Smith für eine der besten und originellsten Autorinnen der Gegenwart halte, der ich unbedingt mehr Leser wünsche. Mit diesem Roman, dem ersten Band aus ihrem „Jahreszeitenquartett“, schaffte sie es zum viertel Mal auf die Shortlist des Man Booker Prize, ist hierzulande aber meiner Wahrnehmung nach immer noch eher ein Geheimtipp, wobei sie in Großbritannien und den USA offenbar deutlich mehr gelesen wird. Das mag an der Sprache liegen, die bei Smith so wichtig ist und die wohl in all ihren Spielereien und Feinheiten nicht einfach ins Deutsche zu übertragen ist, dennoch sind auch deutschen Übersetzungen ihrer Romane sehr lesenswert. „Herbst“ begann Smith 2016 zu schreiben, gleich nachdem die Briten für den Brexit stimmten. Vier Bücher in vier Jahren, eines pro Jahreszeit, so der Plan. In Großbritannien sind auch schon „Winter“ und „Spring“ erschienen. Nächstes Jahr soll dann der abschließende Band „Summer“ erscheinen. In „Herbst“ begegnen wir Elisabeth und Daniel, und das vornehmlich auf zwei Zeitebenen. Als Elisabeth ungefähr 10 ist, lernt sie Daniel kennen, er ist Rentner und Nachbar von Elisabeth und ihrer alleinerziehenden Mutter. Eine Mutter, die nicht immer Zeit für ihre Tochter hat, und die diese später als undankbar beschreiben wird, eine Einschätzung, die weder Elisabeth noch der Leser so teilen wird. Daniel nimmt sich dem aufgeweckten und klugen Mädchen an und fragt sie immer als erstes, was sie gerade liest. So kommen die beiden ins Gespräch, so erfährt Daniel, was Elisabeth umtreibt. Daniel nimmt sie immer ernst, behandelt sie nie wie ein Kind, was Elisabeth spürt und wofür sie dankbar ist. Auf der zweiten Zeitebene dann ist Elisabeth ungefähr 30, sie arbeitet an der Uni, hat ein nicht immer ganz einfaches Verhältnis zu ihrer Mutter, die sich nach wie vor auf ihre eigene Weise selbst verwirklichen will, und sie besucht Daniel im Krankenhaus. Der ist inzwischen 101 Jahre alt und liegt im Sterben. Die Krankenschwestern halten Elisabeth für seine Enkelin, sie lässt sie in dem Glauben. Und sitzt an seinem Bett, in dem er die meiste Zeit schläft, während sie liest – was sollte sie auch sonst tun? „Herbst“ ist auf den ersten Blick leichter lesbar als einige der früheren Romane Smiths, in denen nicht immer die Zusammenhänge gleich deutlich wurden, in denen die Autorin deutlich experimentierfreudiger war. Der Roman lässt sich denn auch zunächst einmal klar lesen als Geschichte der Beziehung zwischen der nun jungen Frau und dem im Sterben liegenden Mann. Doch der Brexit ist allgegenwärtig. Smith erweckt eine Stimmung im Land zum Leben, eine Unsicherheit bei seinen Bewohnern, die sich – natürlich – durch das Referendum nicht zum Besseren, sondern zum Schlechteren gewandelt hat. Sie erzählt das meist nebenbei, stellt die politische Situation nur selten in den Mittelpunkt, zeigt aber auf, was sie für die Menschen bedeutet: Für Elisabeth und ihre momentane, auch berufliche Situation, für Daniel, der die langfristigen Auswirkungen nicht mehr miterleben wird, der aus einer anderen Zeit stammt, für Elisabeths Mutter und ihre Versuche, ihrem Leben im mittleren Alter einen neuen Sinn zu geben. Sprachlich ist das wie immer auf den Punkt, und erneut denke ich, ich sollte Smiths Romane eigentlich im Original lesen, wobei auch die Übersetzung von Silvia Morawetz gelungen ist. Manches deutet Smith nur an, schreibt eher assoziativ, dann wieder präzise. Chronologie darf man bei ihr nicht erwarten, sie lässt ihre Leser mitarbeiten. Komische Szenen gibt es, wenn sie beschreibt, wie Elisabeth versucht, einen neuen Reisepass zu beantragen und dabei auf unerwartete bürokratische Hürden stößt. Vor allem aber habe ich „Herbst“ als die Geschichte einer Freundschaft gelesen, einer Freundschaft, für die Elisabeth nach Jahren der Funkstille so dankbar ist, dass sie Daniel auf seinen letzten Schritten begleitet und ihr Leben hinten anstellt. „Herbst“ ist außerdem eine Liebeserklärung an Bücher und an das Lesen und damit auch eine Aufforderung, stets kritisch zu denken.

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Ein Quartett der Jahreszeiten soll es werden. Und mit „Herbst“ macht Ali Smith den Anfang („Winter“ und „Spring“ liegen bereits im Original vor). Der Roman ist eine aktuelle Zustandsbeschreibung nach dem Brexit-Votum. Aber nicht nur. Es ist auch eine Geschichte über die Vergänglichkeit. Im Pflegeheim begleitet Elisabeth ihren ehemaligen Nachbarn Daniel, mittlerweile 101 Jahre alt, in seinen letzten Tagen. Vertrauter, Vaterersatz und Mentor, ein wichtiger Mensch für die junge Aushilfsdozentin, der ihr die Magie der Bücher offenbarte und sie zu eigenständigem Denken anleitete. Doch nun ist seine Lebenszeit abgelaufen, er liegt im Sterben. Die Sonne schickt ihre letzten Strahlen, Vergangenes mäandert durch seine Gedanken. Rückblenden in die Kriegszeit (Daniel ist Jude), aber auch die Faszination Elisabeths für die feministischen Pop-Art Künstlerin Pauline Boty (und ihren Bezug zu Christine Keeler) schaffen eine Einheit, verbinden Daniels und Elisabeths driftende Gedanken. Elisabeths Erinnerungen an ihre Kindheit werden unterbrochen von Reflexionen über die Veränderungen in ihrem Heimatland nach dem Referendum. Die Spaltung der Gesellschaft, das Oben und Unten, Arm und Reich, der Hass, der offen zur Schau gestellte Rassismus. Und das ist es auch, was uns Ali Smith zu sagen hat, hier liegt ihr Schwerpunkt. Sie schreibt direkt, aber auch anrührend und poetisch, spielt mit Worten, schildert aber auch Situationen wie z.B. die Pass-Beantragung im Postamt mittels Check & Send, die in ihrer Absurdität an einen Sketch von Monty Python erinnern. Ali Smith ist eine der großen britischen Gegenwartsautorinnen und schafft es in „Herbst“ auf brillante Weise, die gesellschaftspolitischen Veränderungen nach dem Referendum literarisch zu verarbeiten. Und wenn Sie bei der Fülle von Neuerscheinungen, die Großbritannien nach den Post Brexit beschreiben, nur einen Roman zu diesem Thema lesen wollen, greifen Sie zu „Herbst“. Besser geht es nicht!

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