Was wäre, wenn Schneewittchen gar nicht so unschuldig, lieb und arbeitsam gewesen wäre? Immerhin futtert sie sich im Originalmärchen am Tisch der Zwerge durch, ohne vorher zu fragen.
Was wäre, wenn Schneewittchens böse Stiefmutter gar nicht so böse ist? Cyntha lebt in einem kleinen Dorf und ist dort immer wieder den Anfeindungen der anderen Bewohner ausgesetzt, schließlich war ihre Mutter eine Magiebegabte. Als der Earl von Falstone um ihre Hand anhält, ist die Außenseiterin gezwungen anzunehmen. Widerwillig, aber mit dem festen Entschluss, sich nicht unterzukriegen folgt sie ihm auf sein Landgut und lernt dort die bildschöne Tochter ihres Ehemannes kennen. Mit der Zeit häufen sich jedoch die merkwürdigen Vorkommnisse: Nebel zieht auf, Menschen verschwinden und man findet Tote, denen das Herz herausgerissen wurde. Hat Snow etwas damit zu tun? Oder etwa das Dunkelvolk, von dem man sich schaurige Geschichten erzählt.
Man könnte es sich jetzt einfach machen und aufgrund des düsteren Settings und der Märchenadaption die Geschichte mit denen von Christina Henry vergleichen, allerdings hat Stefanie Lasthaus bereits mit „Frau Holles Labyrinth“ bewiesen, dass sie ihre ganz eigene Version von düster und bedrohlich hat. Dabei spielt sie ganz bewusst mit der Erwartungshaltung der Leser*innen und der Schwarz-Weiß-Moral der Märchenvorlage selbst, um Spannung zu erzeugen. Mit einer einfachen „Was wäre wenn …?“-Frage kehrt sie die Geschichte um. Dabei entsteht der Reiz mehr und weiter lesen zu wollen aus einer guten Mischung Neugier, Schauer und Sympathie für die eigentlich böse Protagonistin.
Bei den düsteren Märchenadaptionen von Stefanie Lasthaus kommt bei mir immer unweigerlich die Frage auf, warum wir Märchenfiguren eigentlich immer so leichtfertig akzeptieren wie sie sind. Die Stiefmutter ist böse, die Prinzessin gut, der Prinz edelmütig. Allerdings ist niemand so eindimensional. Als wir Cyntha das erste Mal begegnen, wird sie von anderen aus dem Dorf bedrängt und man kann gar nicht anders, als in dieser Situation Partei für sie zu ergreifen. Und auch wenn Cyntha ihre Geschichte nicht selbst erzählt, so folgt der Erzähler doch ihrer Figur, wodurch man beim Lesen nah an ihr dran ist. Wenn sich eines aus „Schneewittchens dunkler Kuss“ mitnehmen lässt, dann, dass selten etwas so ist, wie es scheint. Erst recht nicht im Märchen.