Anne Müller ist ein großartiger Roman gelungen. Mit nüchternem Erzählstil und eindrucksvoller, klarer, stellenweise poetischer Sprache schreibt sie – berührend, detailreich, spannend, schonungslos – über eine Familie, über Freundschaft und Liebe und das Erwachsenwerden eines Mädchens in Norddeutschland in den 70er Jahren.
Clara ist das dritte Kind der Familie König - ein Wunschkind, das einzige, das geplant war und mit dem die Familienplanung abgeschlossen werden sollte. Der Vater, Roman König, ein lustiger, charmanter und allseits beliebter Arzt, übernimmt die Landarztpraxis und einen großen Patientenstamm im Dorf Schallerup.
Clara ist ein aufmerksames, aufgewecktes Kind, das viel mehr sieht und wahrnimmt, als es den Erwachsenen lieb ist. Durch Claras Erzählen und Erinnern, lernt der Leser nach und nach die gesamte Familie König kennen, die attraktive und modebewusste Mutter, die sich um das Haus und die Kinder kümmert, die leidet und schweigt und Geheimisse bewahrt, den sechs Jahre älteren Bruder Sven, die drei Jahre ältere Schwester Irene und die beiden Zwillingsbrüder, Hendrik und Claas, die nur elf Monate nach Claras Steißgeburt auf die Welt kommen. Alle wichtigen Momente werden vom Familienvater fotografisch festgehalten, der die Filme mit den schwarz-weiß Aufnahmen selbst entwickelt und die Fotos macht.
Durch Claras originelle, authentische und humorvolle Erzählweise entstehen bei mir als Leserin aussagekräftige Bilder und Szenen, in denen Claras anfangs bewundernder, verklärter Blick auf ihren Vater immer klarer wird. Das Erzählte wird zum Erlebten und die subtile Entwicklung von Nähe und Distanz prägt Claras Identität.
Die Zeit vergeht, die Kinder wachsen und proportional zur Arbeitsbelastung, seinen Affären und den Stimmungsschwankungen wächst auch der Alkoholkonsum von Dr. König, der sich schon am Vormittag einen Cognac genehmigt, dann noch einen und so bis zum Abend weitermacht. Die edlen Alkoholika werden nicht im Supermarkt eingekauft, sondern beim Apotheker bestellt, von den Kindern abgeholt und nach Hause gebracht.
Die Fassade der heilen Familie bekommt Risse, bröckelt, aber die Familienbande hält. Clara findet Halt und Ablenkung bei ihren Freundinnen, bei Tanzstunden und anderen gemeinsamen Aktivitäten. Es werden Mechanismen gesucht und gefunden, das Bild der glücklichen Familie aufrechtzuerhalten und den Alltag zu meistern. Das Klavierspiel der Schwester fungiert als musikalischer Familienbarometer; ist der Vater schlechter Stimmung, spielt sie Bartók oder Prokofjew, ist er melancholisch, Chopin, wenn alles gut ist, Mozart. Doch das sieht man auf den Super 8 Filmen nicht. Was man sieht, ist inszenierte Normalität, die Brüder geben sich unbeschwert, die Mutter lächelt, Clara und ihre Schwester winken fröhlich in die Kamera. Bei den Ausflügen an die Ostsee, auf dem Jahrmarkt, bei Familienfesten.
Nach seinem Abitur geht Claras großer Bruder zur Marine.
Der 14jährigen Clara, die von Geburt an ein Papa-Kind ist und von klein auf ihren Vater bei seinen Hausbesuchen begleitet hat, die freche Antworten geben durfte, auch mal widersprechen, fällt es immer schwerer dabei mitzumachen. Der Schwester geht es ähnlich. Sie wollen eine Änderung herbeiführen, handeln heimlich und es sieht danach aus, als hätten sie Erfolg. Doch da irren sie sich gewaltig.
Alles Wichtige in Claras Leben geschieht an einem Mittwoch.
Packendes Thema, spannend geschrieben, großartige fünf Sterne!