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Samuel Bjørk im Interview zu "Engelskalt"

"Die Idee zu dieser Geschichte jagte mir selbst Angst ein"

Samuel Bjørk
© Harald Øren
Der norwegische Autor Samuel Bjørk über seinen Thriller „Engelskalt“

Sie sind Musiker, Sänger, Songschreiber, bildender Künstler, Bühnenautor und Romanschriftsteller. Können Sie uns etwas mehr über Ihre vielfältigen Aktivitäten erzählen und wie Sie zum Schreiben kamen?

Ich wuchs in einer kleinen Stadt mitten in Norwegen auf, wo nicht besonders viel los ist. Als ich fünfzehn war, rief jemand eine Theatergruppe für Jugendliche ins Leben. Ich machte mit und merkte schon bald, dass ich mich sehr gern mit der fiktionalen Welt beschäftigte. Sie kam mir beinahe wie ein märchenhafter Ort vor, an dem man der Wirklichkeit entfliehen und so ziemlich alles sein und tun konnte, was man nur wollte. Dort schrieb ich meine ersten Lieder und mein erstes abendfüllendes Stück. Eins führte zum anderen, ich erhielt einen Plattenvertrag, mein erster Roman wurde veröffentlicht, ich schrieb Drehbücher für Fernsehserien und Stücke für die Nationalbühne. Ich versuchte immer das zu tun, was mir Spaß macht, und arbeitete einfach unentwegt.

„Engelskalt“ ist Ihr Thrillerdebüt. Es sorgte in Skandinavien für großes Aufsehen, erhielt enthusiastische Kritiken, und die Rechte zur Veröffentlichung wurden in 20 Länder verkauft. Was hat Sie daran gereizt, nach den zwei in Ihrer Heimat sehr erfolgreichen Romanen „Pepsi Love“ und „Speed for Breakfast“ nun einen Thriller zu schreiben?

Am meisten faszinierte mich am Thrillergenre das hohe Tempo. Ich war schon immer jemand, der nie still sitzen konnte, und ich langweile mich sehr schnell, daher wollte ich versuchen eine Geschichte zu schreiben, bei der die Spannung nie abreißt und eine überraschende Wendung nach der anderen folgt. Ich wollte etwas so Fesselndes schreiben, dass man es nicht aus der Hand legen könnte, es in einem Zug verschlingen müsste und, am Ende angekommen, gleich die Fortsetzung lesen wollte.

In „Engelskalt“ ermittelt die Polizei in einer Mordserie an Kindern, die kurz vor ihrer Einschulung entführt und getötet werden. Sie haben sich damit auf ein heikles Terrain gewagt, da bei der Thematisierung von Kindermorden leicht die Gefahr besteht, Leser emotional zu überfordern. Teilen Sie diese Bedenken, und falls ja, wie stark haben Sie diese bei Ihrer Arbeit beschäftigt?

Bei jedem meiner Projekte versuche ich, so „wahrhaftig” wie möglich zu sein, das heißt, ich bemühe mich, alles zu vermeiden, was zu konstruiert wirkt, zu grausam ist oder der bloßen Unterhaltung dient. Anfangs jagte mir die Idee zu dieser Geschichte selbst Angst ein, ich musste wirklich aufstehen und die Lichter in meiner Wohnung einschalten. Ich beschloss, dass ich sie trotzdem schreiben musste, was ich dann natürlich so einfühlsam wie möglich umzusetzen versuchte. In diesem Roman wird keine einzige Gewalttat detailliert beschrieben, dafür entschied ich mich bereits sehr früh.

Der extreme Druck, den Täter schnellstmöglich zu finden, ruft zwei außergewöhnliche Ermittler auf den Plan: den korpulenten Mittfünfziger Holger Munch, der als leitender Kommissar die höchste Aufklärungsquote vorweisen kann, und Mia Krüger, die sich ihrem genialen Spürsinn zum Trotz aus dem Polizeidienst zurückgezogen hatte und nun mit Anfang dreißig in einer schweren persönlichen Krise steckt. Können Sie etwas mehr über die beiden Ermittler und ihre Beziehung zueinander erzählen?

Es ist etwas merkwürdig, aber als mir die Geschichte einfiel, oder genauer gesagt der Handlungsablauf, gab es noch keine dieser Figuren. Doch ich fand sie so grausam und Furcht einflößend, dass ich meinte die besten Ermittler zu brauchen, die es je gegeben hatte, um sicherzugehen, dass dieser Mörder gefasst würde. Mia stellte ich mir allein auf einer Insel vor, wohin sie sich vor der Welt zurückgezogen hatte, um ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hatte ihre ganze Familie verloren einschließlich ihrer Zwillingsschwester Sigrid, die an einer Überdosis Heroin gestorben war. Holger Munch ist in gewisser Weise Mias Gegenteil, zwar ebenfalls intelligent, aber viel gelassenerer, und beide verband früher eine sehr enge Beziehung zueinander. Munch hatte erst vor kurzem seinen Posten verloren, und dieser Fall führt sie nun wieder zusammen, was sich für beide als glückliche Fügung erweist.

Eine wichtige Rolle im Team von Holger Munch spielt Gabriel Mørk: Der junge Computernerd und Hacker hat soeben erst seine Arbeit in der Mordkommission aufgenommen. Welche erzählerischen Möglichkeiten eröffnet Ihnen die Perspektive des Neulings?

Ich liebe diese Figur, und es war mir sehr wichtig, einen Teil der Geschichte aus ihrem Blickwinkel zu erzählen. Gabriel ist eine Identifikationsfigur für den Leser, denn er war zuvor kein Polizist und hat nie irgendwelche Fälle bearbeitet. Dadurch ist es fast so, als würde man selbst in die Welt der Ermittler eintauchen, wenn man sie durch seine Augen sieht. Wenn man an seiner Stelle wäre, würde man vermutlich die gleichen Fragen stellen und genauso denken wie er. Mein Eindruck war, dass ich durch Gabriels Erzählperspektive dem Leser die Geschichte näherbringen konnte.

Können Sie etwas genauer erzählen, wie Sie über Polizeiarbeit recherchiert haben?

Was die Polizeiarbeit angeht, habe ich einfach versucht, mich an alles zu erinnern, was ich je darüber gelesen hatte, sowohl in Büchern über reale Fälle als auch in Kriminalromanen, oder was ich in Filmen und Fernsehserien gesehen hatte, und dann dort anzusetzen. Über Profiling habe ich gar nichts recherchiert. Ich versuchte lediglich, mich in Mia Krüger hineinzuversetzen und so zu denken und zu handeln wie sie. Manchmal war das ziemlich unheimlich, aber ich glaube, das hat ganz gut funktioniert.

„Engelskalt“ besticht durch exakt kalkulierte Szenenwechsel sowie die starke Symbolwirkung, die von Gegenständen, Räumen und Leichenfundorten ausgeht. Würden Sie zustimmen, dass Ihre Arbeit als Bühnenautor hier auch Ihren Thriller beeinflusst hat?

Ich würde sagen, dass dieser Roman von allem beeinflusst wurde, woran ich jemals gearbeitet habe, von meinen Theaterstücken, meinen Romanen und auch den Liedtexten, die ich zu meiner Musik verfasst habe. Ich habe immer versucht, allem eine tiefere Bedeutung zu geben und Bilder zu erschaffen, die lebendig, symbolhaft und deutlich vorstellbar sind, um dem Leser zu jeder Zeit das bestmögliche Erlebnis zu bieten.

Je weiter Mia Krüger die Aufklärung der Mordserie vorantreibt, desto intensiver wird sie mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Hatten Sie von Anfang an geplant, dass Mias persönliche Tragödie eine zentrale Rolle im Handlungsverlauf spielen sollte?

Nein, um ehrlich zu sein. Zuerst fielen mir die Geschichte und der Plot ein, erst danach kam ich auf die Idee zu Mias Figur und deren Geschichte. Aber als ich anfing zu schreiben, wurde mir immer deutlicher klar, dass beides auf eine Art verwoben ist, die ich so nicht vorhergesehen hatte. Ich wusste zwar, wer der Mörder war, aber ich wusste tatsächlich nicht, dass Mia so viel mit dem Fall tun hatte, wie sich am Ende erweist. Während ich an dem Roman arbeitete, versuchte ich an etlichen Stellen so schnell wie möglich weiterzuschreiben und machte oft nächtelang durch, weil ich selbst so gespannt darauf war zu erfahren, wie es weitergeht. Als der Mörder Mia am Ende die ganze Wahrheit eröffnet, hatte ich wirklich keine Ahnung, dass sich das so herausstellen würde. Bevor ich die Geschichte geschrieben hatte, wusste ich auch nicht, dass die einzelnen Handlungsstränge so eng miteinander verknüpft sind.

Sie zeigen in Ihrem Thriller genau die psychische Verfassung und innere Entwicklung Ihrer Figuren auf. Können Sie etwas mehr darüber erzählen, welche Rolle dabei die Aufklärung der Mordserie spielt?

Ich habe mir das auch überlegt, und meiner Meinung ist es schwer, darauf eine Antwort zu finden. Die Figuren sind für mich so vielschichtig und interessant, dass man eigentlich auch wunderbar ohne die Verbrechen eine gute Geschichte über sie schreiben könnte, aber andererseits – warum darauf verzichten? Ich glaube, dass man die Figuren gerade durch die Verbindung ihres psychischen Zustands und Seelenlebens mit den Verbrechen auf ideale Weise kennenlernen und Gefallen an ihnen finden kann.

Auch von Ihren Nebenfiguren zeichnen Sie genaue Psychogramme. Sie legen offen, welche Ereignisse im Leben eines Menschen zu psychischen Verwerfungen führen können und richten Ihr besonderes Augenmerk auf das Schicksal von Kindern. Steckt dahinter auch eine Form der Sozialkritik?

Ja, das ist ganz klar der Fall. Bevor ich mit der Arbeit an diesem Buch begann, das mein erster Genre-Roman ist, beschloss ich, es nur zu schreiben, wenn ich darin auch meine Ansichten über die Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen könnte.

Unter den Spannungsautoren von Weltformat finden sich Skandinavier wie Håkan Nesser und Jo Nesbø. Sehen Sie Ihren Thriller in einer bestimmten literarischen Tradition?

Ja, ich denke schon. Dieser Roman drückt viel von der Dark-noir-Stimmung aus, für die skandinavische Kriminalautoren bekannt sind. Darüber hinaus wollte ich dem Roman noch etwas Besonderes hinzufügen, versuchen, etwas Neues auszuprobieren, eventuell die psychologische Ebene stärker auszuloten und Sozialkritik einzubringen, so dass man das Buch ebenso als literarischen Roman wie als Thriller betrachten könnte.

„Engelskalt“ ist der erste Teil einer Serie um das Ermittlerduo Holger Munch und Mia Krüger. Können Sie schon einen Ausblick geben, worum es im nächsten Band gehen wird?

Ich schreibe gerade den zweiten Thriller und stecke tatsächlich im Moment richtig tief drin, indem ich mich bemühe, die Figuren dazu zu bringen, das zu tun, was ich für sie bestimmt habe. Das ist nicht immer leicht, weil es ständig so aussieht, als wollten sie ihre eigenen Wege gehen. Holger Munch versucht immer noch, über die Trennung von seiner Frau hinwegzukommen. Mia ist vorübergehend vom Dienst freigestellt, sie braucht ein psychiatrisches Gutachten, bevor sie wieder arbeiten darf. Dann wird ein siebzehnjähriges Mädchen im Wald gefunden, nackt, gebettet auf einen Untergrund aus Federn, umkränzt von einem Pentagramm aus Lichtern, mit einer weißen Blume zwischen den Lippen. Mehr möchte ich im Augenblick nicht verraten…

© Goldmann Verlag
Interview: Elke Kreil

Engelskalt

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