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Rezensionen zu
Gehe hin, stelle einen Wächter

Harper Lee

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Es ist das Literatur-Highlight 2015! Der neue Roman von Harper Lee hat die ganze Buch-Welt dieses Jahr durcheinander gebracht. Denn bisher hat die inzwischen 89-Jährige nur einen Roman veröffentlicht, der ihr über Nacht Weltruhm einbrachte. 1960 erschien "Wer die Nachtigall stört", wurde ein Jahr später mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und zählt mit 40 Millionen verkauften Exemplaren sowie Übersetzungen in mehr als 40 Sprachen immer noch zu den meistgelesenen Büchern der Welt. Grund genug auch, dass "Wer die Nachtigall stört" auch unser Lesetipp des Monats August geworden ist. Der neu erschienene Roman"Gehe hin, stelle einen Wächter" soll das Erstlingswerk von Harper Lee gewesen sein. "Angeblich" verschwand das Manuskript, wurde vergessen und sei erst "durch Zufall" von Lees Anwältin bei Aufräumarbeiten gefunden worden sein. Für meinen Geschmack scheinen das allerdings ganz schön viele Zufälle auf einmal zu sein. Da ich ja auch in der PR-Branche arbeite, dachte ich gleich: Schöne PR-Aktion. So kann man eben auch eine Menge Aufmerksamkeit für sein neues Buch bekommen. Die Frage ist: Warum veröffentlicht Harper Lee - obwohl sie doch immer sagte, sie will nie wieder ein Buch auf den Markt bringen - nun doch wieder eine Geschichte? Es gab sogar Gerüchte, dass Lee gezwungen wurde das Buch zu veröffentlichen. Wobei diese gleich wieder dementiert wurden - von ihrer Anwältin. Doch nun endlich zum Buch: In ihrem neuen-alten Roman nimmt Lee uns wieder mit nach Maycomb, allerdings 20 Jahre nach To Kill A Mockingbird. Scout ist erwachsen geworden, ihr Bruder Jem ist früh verstorben und Vater Atticus ist inzwischen alt und krank. Scout kommt von der Uni in New York zurück in ihre Heimatstadt und muss feststellen, dass sie sich vollkommen entfremdet hat. Nicht nur von den Bewohnern - sondern auch von ihrer Familie, allen voran ihr Vater, ihre "Ersatz-Mutter" Calpurnia und ihr Fast-Verlobter Henry Clinton. Auf einmal gibt es in dem Städtchen einen Bürgerrat, der versucht die Emanzipation der Schwarzen in "geregelte Bahnen" zu lenken - und wer sitzt ganz vorne an dessen Tisch mit dabei? Atticus und Henry. Scout ist geschockt! - Und so ergeht es auch vielen Lesern, mich natürlich miteingeschlossen. Was ist aus dem Atticus Finch geworden, der den jungen Tom Robinson vor Gericht gegen die weiße Übermacht verteidigt hat? Wie kann dieser literarische Held auf einmal so tief fallen? Oder wie es der Tagesspiegel formuliert: sich von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde verwandeln? Ein Buchladen in Michigan geht sogar soweit, dass er seinen Kunden das Geld für das Buch zurückgibt und schreibt auf seiner Website: This is pure exploitation of both literary fans and a beloved American classic. Nach der "Entlarvung" von Atticus' politischer Haltung wandelt sich das Buch inhaltlich vor allem zu einer Studie des Erwachsenwerdens. Scout wird völlig Desillusioniert, ihr - und unser - Vorbild Atticus wird von seinem unanfechtbaren Thron gestoßen und mit dieser, neuen harten Realität müssen wir alle gemeinsam versuchen umzugehen. Und so stehen wir nach dem Lesen ebenso wie Scout auch alleine vor der Kernaussage des Buches: "Die Insel eines jeden Menschen, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht." Diese harte Lektion muss Scout erst einmal verdauen und ist kurz davor alle Brücken hinter sich abzureißen. Neben dieser fast schon an einen Bildungsroman erinnernden Thematik ist das Buch, obwohl es schon so alt ist, politisch noch immer brandaktuell. Es erinnert sehr an die Unruhen in Fergusson und Baltimore, die noch immer die schwelen. Trotz der Enttäuschung über Atticus' Wandlung habe ich das Buch unheimlich gerne gelesen. To Kill A Mockingbird war eines meiner Lieblings-Schulbücher, das wir im Englisch-LK lesen mussten. Und kaum hatte ich die ersten Sätze aus "Gehe hin, stelle einen Wächter" gelesen, fühlte ich mich gleich wieder in diese Atmosphäre zurückversetzt. Ich hatte fast das Gefühl, die sommer-warme Hitze von Maycomb auf der Haut zu spüren und durch die Rückblicke in Scouts Kindheit, war die ganze Stimmung vom Vorgängerbuch gleich wieder gegenwärtig. Die gegenwärtigen Schilderungen wiederum sind beklemmender, aufwühlend aber auch authentischer - denn welcher Mensch ist nicht fehlbar? Macht die Geschichte Atticus nicht einfach menschlicher? Dies wird auch durch die veränderte Erzählerstimme deutlich. Jetzt spricht nicht Scout als Ich-Erzähler wir bei der Nachtigall, sondern es ist eine externe Erzählerstimme, die uns über die Vorkommnisse berichtet. So verliert die Handlung gezwungernermaßen die kindliche Naivität. Und wir als Leser können etwas eher entscheiden, ob wir wirklich auf allen Ebenen mit Scout einverstanden sind, ihre Meinung teilen oder vielleicht doch die Beweggründe ihres Vaters verstehen können oder nicht - denn schließlich müssen auch wir Leser unser eigens Gewissen befragen und für dieses einstehen. Für mich war Gehe hin, stelle einen Wächter daher ein wirklich tolles und intensives Leseerlebnis!

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Ich habe letzten November »To Kill a Mockingbird« gelesen, da war noch gar keine Rede von diesem Buch. Nach den ersten Kritiken wollte ich dieses Buch auch gar nicht lesen; ich liebe die Charaktere Scout, Jem und Atticus Finch, und nun hieß es, Atticus ist ein Rassist! Das wollte ich nicht lesen. Aber Nina @hauptsachebunt und dann auch Yvonne @thatyvo haben mich überzeugt. Ich bin froh darüber. Jean Louise, also Scout, lebt und arbeitet in New York. Jedes Jahr kommt sie im Sommer für zwei Wochen nach Hause. Sie ist jetzt 26 Jahre alt, ihr Vater Atticus ist schon 72 und hat rheumatoid Arthritis. Es gibt Tage, da kann er nicht einmal sein Besteck halten und doch arbeitet er immer noch. Jean Louise fährt aus diesem Grund mit dem Zug nach Maycomb, damit ihr Vater nicht um 3 Uhr morgens 100 Meilen fahren muss, um sie in Mobile abzuholen. Es ist Mitte der 50er Jahre. Henry Clinton, der Freund aus Kindestagen, hat Jus studiert und arbeitet jetzt für Atticus. Er liebt Jean Louise und möchte sie heiraten. Die Dialoge zwischen Jean Louise und Henry sind ein bisschen zu honigsüß seitens Henry, sogar wenn sie streiten nennt, er sie »Honey« oder »Süße«“. Am Tag nach ihrer Ankunft findet Jean Louise eine Broschüre zwischen den Büchern, die Atticus im Wohnzimmer liegen hat. Da steht »The Black Plague« (Die schwarze Plage). Ab diesem Zeitpunkt geht für Jean Louise eine Welt unter. Nicht nur, dass der Vater den sie vergöttert solche Broschüren liest, er ist auch im Vorstand des »Citizens Council«, eine Organisation, welche die Ideen einer weißen Vorherrschaft propagierte. Es macht sie physisch krank und sie muss sich übergeben. In den folgenden zwei Tagen redet und streitet sie mit ihrer Tante Alexandra, die bei Atticus wohnt, mit ihrem Onkel Jack, der in dieser Geschichte eine wichtigere Rolle spielt als Atticus selbst, und zum Schluss natürlich auch mit ihrem Vater. Sie denkt auch viel zurück, erinnert sich an Ereignisse aus ihrer Kindheit. Da erleben wir wieder diese wunderbaren Charaktere aus Mockingbird. Jean Louise hat mir unendlich leidgetan. Sie versteht die Welt nicht mehr. Alles, woran sie glaubt, wird an einem einzigen Tag zunichtegemacht. Woran soll sie noch glauben, wenn der Mensch, den sie verehrt und vertraut hat, sich plötzlich für etwas engagiert, das gegen alles ist, was er ihr beigebracht hat? Alles, was er ihr vorgelebt hat, praktisch in Minuten zerstört. Atticus und Jean Louise sind durch ein sehr starkes Band verbunden. Aber jetzt fühlt sie sich krank, verraten, ihre Welt zerbröselt und am liebsten möchte sie einfach weglaufen und nie wieder kommen. Diese Geschichte geht nur über einen Zeitraum von drei Tagen, aber diese Tage sind sehr erlebnisreich. Gleich auf den ersten Seiten wird man wieder in diese liebgewonnene Welt von »Scout« katapultiert, zurück nach Alabama. Aber gerade wegen der vielen Stimmen in den Medien, ist man innerlich darauf vorbereitet, dass ein wunderbarer Charakter zerstört wird. Wer hat Atticus nicht bewundert für seine Einstellung und seine Überzeugungen in einer Welt voll von rassistischen Menschen? Aber, Atticus hat Tom verteidigt, weil er unschuldig war, und nicht wegen seiner Hautfarbe. Ich als Leser habe ihn, wie Jean Louise auch, auf ein Podest gestellt und bewundert. Und ich muss sagen; ich respektiere ihn immer noch. Er ist menschlicher geworden und wenn man das, was er Jean Louise klar zu machen versucht, wirklich genau liest und versteht, erkennt man, dass er versucht das Richtige zu tun, in einem dem Süden angepassten Tempo. Er blickt weiter als seine Mitmenschen, sieht das größere Bild und weiß, dass seine Welt sich verändern wird. Manche Äußerungen sind natürlich rassistisch, das kann man nicht abstreiten. Aber er verfolgt ein bestimmtes Ziel in seinem Streitgespräch mit Jean Louise, das wird einem erst nachher bewusst! Er ist immer noch der Mann, der einen Unschuldigen verteidigen würde, egal welche Hautfarbe er hat. Die Geschichte reflektiert die Zeit, in der sie spielt, das darf man nicht aus den Augen verlieren. Es werden die Gefühle der lokalen Bevölkerung vermittelt, ihre Ablehnung oder Billigung der NAACP (Nationale Organisation für die Förderung farbiger Menschen), und Harper Lee ist damit aufgewachsen, was ihrer Geschichte Authentizität verleiht. Dadurch ist das Buch teilweise auch politisch, aber ich denke, dass dieses Buch die damalige Gesinnung in den Südstaaten sehr gut wiedergibt. Die Charaktere sind genauso wunderbar wie in Mockingbird, vor allem Onkel Jack ist eine einmalige Persönlichkeit. Es gibt so viele Stimmen, die diese eine Änderung in Atticus zum großen Thema machen aber, um was geht es wirklich in dieser Geschichte? Darum, dass Atticus ein Rassist geworden ist? Der Mann, der sagte: »Equal rights for all; special privileges for none«, ein Mann der einen unschuldigen Schwarzen verteidigt hat und jetzt in einer Organisation für die weiße Vorherrschaft mitmacht? Nein, darum geht es nicht. Nebenbei gesagt würde er immer noch gleiches Recht für alle fordern, im gleichen Kontext. Es geht um eine Tochter, die sich von ihrem Vater lösen muss, um eine eigenständige Person zu werden. Es geht um den inneren Kampf, den sie durchlebt, um erwachsen zu werden. Und es geht auch um Atticus und den Weg, den er beschreitet, um endlich die Nabelschnur zu durchtrennen. Manche professionellen Meinungen zum Buch sind vernichtend. Ich kann diese Meinungen nicht teilen. Das Buch ist meiner bescheidenen, subjektiven Meinung nach nicht so großartig wie Mockingbird, aber immer noch eine sehr bewegende und lesenswerte Geschichte in einer authentischen Umgebung mit wunderbaren, liebenswerten Charakteren. Man sollte versuchen es nicht als »Fortsetzung« zu lesen, weil es das nicht ist, sondern als eigenständige Geschichte.

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Jean Louise Finch, die kleine Scout aus Harper Lees berühmtem Werk „Wer die Nachtigall stört“, ist erwachsen geworden. Mit 26 Jahren lebt sie in New York, versorgt sich selbstständig und kehrt nur selten in das verschlafene Nest im Süden Maycomb County zurück. Zwei Wochen soll sie dort bei ihrer Familie, ihrem Vater Atticus und ihrer Tante Alexandra, verbringen. Hank, ihr Freund aus Kindertagen, wartet schon sehnsüchtig auf den Moment, an dem Scout zurück in ihre Heimatstadt kommt, ihn heiratet und sesshaft wird. Doch Jean Louise ist nicht so weit, sie lebt ganz nach ihrem eigenen Kopf und ist umso erschrockener als die Grundfesten ihrer Überzeugungen in Trümmern zu Boden fallen. Die widerspenstige Scout Jean Louise ist eine Frau von Welt, lebt in der großen und modernen Stadt New York, doch sobald sie die Grenzen von Maycomb County überschreitet, wird sie wieder zur kleinen Scout, die sich als Finch allerlei Unsinn leisten kann dennoch bei der Maycomber Bevölkerung angesehen ist. Sie kehrt zurück in das Haus aus Kindertagen, in welchem sie mit ihrem Bruder Jem, der inzwischen an einem Herzleiden verstorben ist, aufwuchs. Ihr Vater Atticus, der allzeit ihr Held in goldener Rüstung war, ist gealtert und seine strenge Schwester Alexandra ist eingezogen, um ihm unter die Arme zu greifen. Dennoch arbeitet ihr Vater als angesehener Anwalt, in dessen Fußstapfen Henry (oder Hank) treten möchte. Jean Louise wird mit offenen Armen empfangen, doch irgendetwas fühlt sich dieses Mal falsch an. Für Jean Louise ist in Maycomb schon lange kein Platz mehr und die Gedanken daran, hier eines Tages Hausfrau und Mutter zu sein, erschrecken sie zutiefst. Hank umwirbt sie mit allen Künsten, doch Scout spricht freiheraus: Heirat ist nichts für sie, vielleicht sogar niemals. Neckisch umschwirren die beiden sich und sorgen für großartige Dialoge. Auch das Gezeter ihrer Tante, die sie gern als echte Lady Maycombs sehen würde, ist nicht hilfreich, um Jean Louises Heimatgefühl zu wecken. Das Einreißen aller Wertevorstellungen Während Jean Louise versucht mit dem Fremdsein in ihrer Heimatstadt klar zu kommen, geschieht das für sie Unfassbare: Sie erlebt ihren Vater und Hank inmitten einer Versammlung weißer Männer, die sich gegen die NAACP, die National Association for the Advancement of Colored People, auflehnen. Jean Louise ist schockiert und entsetzt: Ist ihr Vater tatsächlich ein „Niggerhasser“? Der Mann, der ihr ganzes Leben das Ebenbild eines Gottes darstellte, der ihr Richtig und Falsch beibrachte, dem sie vertraute und dem sie jedes Wort glaubte. Kann dieser Mann sie verraten und sie so in ihren grundlegenden Wertevorstellungen erschüttert haben? Jean Louise steht vollkommen neben sich, flüchtet zu Calpurnia, der alten und inzwischen zurückgezogen lebenden Haushälterin, die sie groß gezogen hat. Doch auch hier findet sie nur Enttäuschung. Jean Louise erlebt das, was wohl jeder eines Tages mit seinen Eltern durchmacht: die Erkenntnis der Fehlbarkeit jedes Menschen. Sie fühlt sich verraten und allein gelassen, von niemandem verstanden, selbst von den Menschen, denen sie immer trauen konnte, die ihr immer geholfen haben. Verwirrt streunt sie durch Maycomb und beginnt einen Kriegszug, der zuletzt ihren Vater trifft. Harper Lee erzählt Gehe hin, stelle einen Wächter, ihr tatsächliches Debüt, aus der dritten Person und nicht wie in Wer die Nachtigall stört aus der Sicht Scouts. Und doch erzeugt sie von Anfang an auch mit diesem Buch eine Sogwirkung, die mich gepackt hat. Der Fokus liegt auf der erwachsenen Jean Louise, die ihren Weg durch die Welt geht und dabei von ihrem Status als Weiße profitiert und dem Rückhalt, den ihr ihre einflussreiche Familie in Maycomb County geboten hat. Doch dessen ist sich die junge Frau kaum bewusst. Immer noch ist sie naiv und vertraut auf die Moralvorstellungen, die in jedem etwas Gutes sehen. Ihre Kategorien des Denkens sind nicht Schwarz und Weiß, sondern ihr Herz, das Zuneigung empfindet. Während in New York das moderne Leben voranschreitet, sieht es im tiefsten Süden ganz anders aus. Hier schwelt der Rassenkonflikt unumwunden und Jean Louise lernt eine Realität kennen, mit der sie sich so bisher noch nicht auseinandersetzen musste, für die sie als junges Mädchen blind war und vor der sie beschützt wurde. Eine schillernde und zugleich ernsthafte Szenerie Harper Lees Worte tauchen direkt in die Szenerie ein und schildern Maycomb County in lebhaften Farben. Momentaufnahmen wechseln sich ab mit Erinnerungsfetzen aus vergangenen Kindertagen und die Konflikte, denen sich die erwachsene Jean Louise stellen muss, reißen nicht ab. Gehen hin, stelle einen Wächter besitzt nicht nur unglaubliche Aktualität sondern auch Allgemeingültigkeit. Auf dem Weg die eigene Persönlichkeit zu finden, begegnen uns immer wieder Konflikte, die uns erschüttern: Vater und Tochter, Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch, Tradition und Moderne, Erwartungen und Wünsche, die miteinander kollidieren und uns zu Entscheidungen zwingen. Harper Lees Protagonistin wird innerhalb weniger Tage mit einer Fülle dieser heftigen Kollisionen konfrontiert, durch die sie ihr gesamtes Leben hinterfragt. Dabei geht sie manchmal sehr naiv vor und man meint als Leser sie lebte bisher in einer wohlbehüteten Welt ohne jegliche Rassenkonflikte. Ganz stark hebt Lee die kleinstädtischen Gepflogenheiten hervor und stellt sie in Kontrast zu einer frei heraus denkenden Jean Louise, die sich noch nicht entschieden hat, wie sie ihr Leben führen will. Die Stärke des Buches ist der Fokus auf seine Protagonistin und ihren Umgang mit diesen weitreichenden Konflikten und gleichzeitig liegt hier vielleicht auch die Schwäche; ihre Entwicklung wird in einer zu knappen Zeitspanne erzählt, die nur am Rande die tatsächlichen Konfliktherde anschneidet. Gehe hin, stelle einen Wächter erzählt die Geschichte der kleinen Scout, die als Erwachsene erkennt, dass die Welt schwarz und weiß und grau sein kann. Der Roman besticht dennoch durch seine Sprache, die mich wieder mitgezogen und es mir ermöglicht hat, mit der Hauptfigur zu fühlen, zu denken und zu hadern.

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Mit ihrem ersten veröffentlichten Werk „Wer die Nachtigall stört“ gelang der US-amerikanischen Autorin Harper Lee 1960 ein Welterfolg, der mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet und auch verfilmt wurde. Ihr Erstlingswerk „Gehe hin, stelle einen Wächter“ jedoch galt lange Zeit als verschollen, bis es im letzten Jahr wiederentdeckt wurde. Wir treffen darin erneut auf die Charaktere aus „Wer die Nachtigall stört“. 20 Jahre später kehrt die mittlerweile erwachsene Jean Louise Finch („Scout“) von New York nach Maycomb, Alabama zu ihrem kranken Vater Atticus zurück und sieht sich wieder mit dem Konflikt um die Rechte der Schwarzen konfrontiert, der auch das Bild, das sie von ihrem geliebten Vater all die Jahre hatte, zu erschüttern droht… Als große literarische Sensation wurde uns Harper Lees endlich wieder gefundenes erstes Werk verkauft, das uns in den 1950er Jahren mit der nun erwachsenen Scout wieder nach Maycomb heimkehren lässt. Sie lebt mittlerweile seit Jahren in New York und kehrt jedes Jahr für zwei Wochen in ihr Zuhause zurück. Ihr Besuch wird uns von Scout mit herrlicher bissiger Ironie erzählt, von ihrer Konfrontation mit den konservativen Ansichten ihrer Tante Alexandra, die sich mittlerweile um Scouts unter Arthritis leidenden Vater kümmert, und der Gemeinde, von ihren Treffen mit dem Gehilfen ihres Vaters in der Kanzlei, Henry, den ihre Tante für nicht gut genug für sie hält, und von ihrem entsetzten Wahrnehmen der Konflikte um die Rechte der Schwarzen in den Südstaaten. Unterbrochen werden die Ereignisse während ihres Urlaubs immer wieder von Rückblenden in Scouts Kindheit, die auch kurz auf Ereignisse aus „Wer die Nachtigall stört“ hinweisen. Den Rassekonflikt erlebt man vor allem aus der „Außensicht“ von Scout, die in New York einen toleranteren Umgang mit der Thematik gewohnt ist und nun auf die festgefahrenen Ansichten ihrer Heimat trifft und die Welt nicht mehr versteht, als plötzlich auch ihr Vater an Versammlungen mit Rassisten teilnimmt und Schriften des Ku-Klux-Klans liest. Lee bettet diese Auseinandersetzung auch in den immer noch schwelenden Konflikt zwischen Nord- und Südstaaten ein, die selbst entscheiden wollen, wie sie mit den Schwarzen umgehen. Generell geht die Autorin mit dieser Thematik sehr differenziert um, zeigt die sehr facettenreichen Positionen auf, was das Buch ehrlicher und realistischer als „Wer die Nachtigall stört“ erscheinen lässt. Der vermeintliche Held Atticus wird gestürzt, wird zu einem Menschen mit Fehlern und Schwächen und auch Scout ist bei aller Toleranz im Verhältnis zu ihren Mitmenschen nicht frei von Rassedenken. Stärker empfand ich jedoch das Buch bei der Herausstellung der Abnabelung Scouts von ihrem Vater und ihrer Heimat, etwa steht an der Stelle ihres alten Hauses nun eine Eisdiele. Scout macht ihre letzten Schritte in Richtung Erwachsenenleben und muss erkennen, dass ihr Vater, den sie immer vergöttert hat und dessen Ansichten auch die ihren waren, auch nur ein Mensch mit ganz normalen Schwächen ist, von dem sie sich lösen und mit dessen Positionen sie sich kritisch auseinandersetzen muss. Der Autorin gelingt ein eindrucksvoller Appell an die Entwicklung eines eigenen Gewissens: „Die Insel eines jeden Menschen, Jean Louise, der Wächter eines jeden Menschen ist sein Gewissen. So etwas wie ein kollektives Gewissen gibt es nicht. (…) und du, die du mit einem eigenen Gewissen geboren wurdest, hast es irgendwann an das deines Vaters geheftet, wie eine Klette. Als Heranwachsende, als Erwachsene hast du deinen Vater mit Gott verwechselt, ohne es selbst zu merken. Du hast ihn nie als einen Mann mit dem Herzen und den Schwächen eines Mannes gesehen. Zugegeben, vielleicht waren Letztere schwer zu erkennen, weil er so wenige Fehler macht, aber er macht sie, genau wie wir alle. Du warst ein emotionaler Krüppel, hast dich auf ihn gestützt, Antworten von ihm übernommen, geglaubt, dass deine Antworten immer seine Antworten sein würden.“ (S. 299/300) Ich will nicht die ganze Zeit wieder auf „Wer die Nachtigall stört“ zurückkommen, „Gehe hin, stelle einen Wächter“ ist für sich genommen absolut lesenswert. Es weist ein paar Schwächen in der Handlung auf, einzelne Erzählstränge werden nicht zu Ende geführt. Auf mich wirkte es ein wenig unvollendet, weshalb die Umstände, die zur Veröffentlichung geführt haben, wissenswert gewesen wären. Wurde es noch einmal überarbeitet, war es wirklich verschollen, warum stimmte die Autorin der Veröffentlichung jetzt zu? Scout war mir auch nicht mehr so sympathisch wie noch als Kind, sie war etwas ignorant und uninteressiert an den Themen ihrer Zeit, ihr Vater verliert auch durch seinen Umgang mit der Schwarzenthematik an Sympathie, wenn er auch immerhin menschlicher und damit realistischer wird. Das Buch kommt zwar nicht an „Wer die Nachtigall stört“ heran, ist aber immer noch sehr gut. Fazit Die groß angekündigte literarische Sensation ist „Gehe hin, stelle einen Wächter“ zwar nicht. Der Autorin ist jedoch ein großer Roman zum Konflikt um die Rechte der Schwarzen in den Südstaaten der 1950er Jahre gelungen, der vor allem aufgrund seiner darin eingebetteten Geschichte um Scout und ihre Abnabelung von ihrem Vater überzeugt. Bei diesem eindrucksvollen schriftstellerischen Talent ist es wirklich zu bedauern, dass Harper Lee bloß zwei Romane veröffentlicht hat!

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Harper Lees verschollener Erstling erzählt vom Erwachsenwerden „Die Hölle war und würde, was Jean Louise betraf, immer ein feuriger Pfuhl sein, dessen Ausmaße ungefähr genauso groß wie Maycomb, Alabama, waren und der von einer fünfzig Meter hohen Mauer umschlossen wurde. (...) Die Hölle, das ist ewiges Getrenntsein. Was hatte sie bloß getan, dass sie sich den Rest ihres Leben (sic!) nach ihnen sehen musste, heimliche Abstecher in eine lang zurückliegende Zeit unternahm, aber keine Reise in die Gegenwart? Ich bin ihr Blut und ihre Knochen, ich habe in dieser Erde gegraben, das hier ist mein zuhause. Aber nein, ich bin nicht ihr Blut, und der Erde ist es egal, wer in ihr gräbt, ich bin eine Fremde auf einer Cocktailparty.“ Harper Lee wurde durch ihren bislang einzigen, 1960 veröffentlichten Roman „Wer die Nachtigall stört“ weltberühmt. Darin kämpft der Anwalt Atticus Finch in einem kleinen Provinzort in Alabama gegen den Rassismus der Südstaaten. Dieses Maycomb ist unschwer mit Monroeville zu identifizieren, wo Harper Lee 1926 geboren wurde und heute noch lebt. Den vorliegenden Roman „Gehe hin, stelle einen Wächter“ vollendete Lee 1957, er ging dem eigentlichen Debüt der Autorin voraus. Das Manuskript wurde jedoch von ihrer einstigen Lektorin Theresa von Hohoff abgelehnt. Sie bat die Autorin, sich auf die Rückblicke ihrer Protagonisten zu konzentrieren und daraus einen neuen Roman zu fertigen. Nur zu verständlich, denn diese Kindheit bot starke Szenen, etwa die eines nachgespielten Gottesdienstes, bei dem die Kinder die Taufe in den modrigen Goldfischtümpel der Nachbarin verlegten und von Pfarrer und Vater im Hintergrund beobachtet werden. Im nun erschienenen Roman ist aus der kleinen Scout die 26-jährige Jean Louise geworden. Die Tochter des gerechten Atticus lebt in New York und kehrt im Sommer für zwei Urlaubswochen nach Maycomb zurück. Ihr gealterter Vater teilt sich mittlerweile mit seiner Schwester Alexandra ein neues Heim. In seine Kanzlei hat er, nach dem plötzlichen Tod seines Sohnes Jem, Henry aufgenommen. Ein Kinderfreund der Geschwister, von dem man in der „Nachtigall“ weniger erfährt als von Dill, einer Truman Capotes nachempfundenen Figur, der im neuem Roman in Italien lebt. Henry oder Hank, wie Jean Louise ihren Freund nennt, inszeniert Lee nicht nur als Nachfolger Finchs, sondern auch als künftigen Ehemann von Jean Louise. Diese sträubt sich zunächst dagegen. Sie plant eine andere Zukunft, fern der Erwartungshaltungen Maycombs. Ihr eigenwilliger Widerspruchsgeist führt zu flottem Schlagabtausch, vor allem mit Henry und Alexandra, stets begleitet von einem inneren Monolog voll pointierter Ironie. Die Abnabelung von der Heimat und die Veränderung in Jean Louise verdeutlicht die Autorin durch Gegensatzpaare. Der Weltstadt New York steht der Kaffeeklatsch des Provinzkaffs gegenüber. Aus Atticus Finch, dem vitalen Vater, wird ein arthritischer Alter. Er tauscht nach dem Verlust von Kindern und Kraft das Familienhaus gegen einen Altersruhesitz. Und die Bemutterung der warmherzigen Haushälterin Calpurnia weicht den Bevormundungsversuchen Tante Alexandras. Wenn Jean Louise am Ende diesen Wandel erkennen muss, ist aus dem Racker Scout endgültig eine junge Frau geworden. Doch davor steht der dramatische Wendepunkt des Romans. Er erschüttert das Selbstbild Jean Louises, die bis dahin vollkommen auf die Figur des Vaters fixiert war. Ort und Anlass sind wie bei einer Gerichtssache akribisch notiert. An einem Sonntag um14 Uhr 18 findet Jean Louise unter Atticus’ Unterlagen ein rassistisches Pamphlet des Ku-Klux-Klan. Aufgewühlt stürmt sie zum Bürgerrat, versteckt sich in der gleichen Loge, von der sie einst Atticus’ Kampf für das Gerechte verfolgte, und sieht nun wie er beim Unrechten mitmacht. Neben ihm sitzt Henry, den sie, das wird nun klar, niemals heiraten wird. Ohnmächtig wankt sie zurück, nimmt noch ganz in der Erinnerung verhaftet den früheren Weg. Aber dort wo sie ihre geborgene Kindheit verbracht hat steht nun eine Eisdiele. Nach einem kurzen Moment der Schwäche stellt sich Jean Louise der Konfrontation, die der bis dahin spannende Handlungsverlauf erwarten lässt. Doch diese und damit die letzten hundert Seiten fallen enttäuschend aus. Drei große thesenlastige Dialoge dienen Lee, um die gesellschaftspolitischen Hintergründe darzulegen. Zunächst spricht Jean Louise mit Jack, dem intellektuellen Bruder Atticus’. In einem sokratischen Zwiegespräch vermittelt er die Geschichte Maycombs und die daraus resultierenden Zwänge. Seinen Bruders charakterisiert er als stolzen Traditionsbewahrer, was seine Anwesenheit beim Bürgerrat rechtfertige. In der folgenden Unterredung mit Henry konfrontiert Jean Louise diesen mit ihrem Entschluss, ihn niemals zu heiraten. Henry begründet seine Anwesenheit bei der Rassistenversammlung mit seinem geringen Status, er müsse sich anpassen um in Maycomb bestehen zu können. Hat Lee in diesem zweiten Dialog das soziale Gefüge der Dorfgemeinschaft erläutert, so schließt sie die Vater-Tochter-Debatte an, um auf die Eigenständigkeit Alabamas zu verweisen. Diese will man sich nicht durch Beschlüsse einer fernen Regierung nehmen lassen. Maycomb entscheide immer noch alleine, wie es „die Neger“ behandeln will. Diese Versuche, den Stein des Anstoßes zu umgehen, sind nicht nur für Leser des 21. Jahrhunderts unbefriedigend. Auch seine Hauptfigur begehrt dagegen auf und wird schließlich mit körperlicher Gewalt zum Schweigen gebracht. Für mich nimmt der Roman dadurch ein kurioses Ende, das noch dazu offen bleibt. Jean Louise hält an ihrer „Farbenblindheit“ fest, allerdings „achtet sie diesmal darauf, sich nicht den Kopf zu stoßen“ an den Maycomber Verhältnissen. Für die Ablehnung des Manuskripts durch die Lektorin mag die brisante rassenpolitische Situation der fünfziger Jahre verantwortlich sein. Oder waren es doch die formalen und inhaltlichen Schwachstellen des Romans? Neben kleineren sprachlichen, wie „leere Autos ... parken“, finden sich auch inhaltliche, etwa wenn Lee die Erinnerung an die Bestattung des Bruders im unpassenden Scout-Ton wiedergibt oder die gelungene Charakterisierung von Positionen durch aufgefädelte Gesprächsfetzen durch häufige Wiederholung strapaziert. Bis auf diese Einschränkungen ist Harper Lees nun publizierter Erstling ein spannender Roman, dessen Heldin standhaft „farbenblind“ bleibt.

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